a) Gesetzeshistorie: Falsches Verständnis von § 628 Abs. 1 S. 2 BGB

Eine entsprechende Anwendung des § 628 Abs. 1 S. 2 BGB ließe sich nur rechtfertigen, wenn hinreichend gesichert angenommen werden kann, dass der Gesetzgeber mit § 54 RVG eigentlich eine dem § 628 Abs. 1 S. 2 BGB inhaltlich entsprechende Regelung schaffen wollte. Ist das Verschuldenserfordernis des § 54 RVG nur das Resultat eines unzureichenden Verständnisses von § 628 Abs. 1 S. 2 BGB und seiner beiden Alternativen, so wäre eine entsprechende Anwendung des § 628 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 BGB ernsthaft in Betracht zu ziehen. Hingegen belässt § 54 RVG für eine solche keinen Raum, sollte sich herausstellen, dass der Gesetzgeber die Regelung des § 628 Abs. 1 S. 2 BGB für beigeordnete Rechtsanwälte „vereinfachen” (NK/Schneider/Teubel, Kostenhilferecht, 3. Aufl. 2018, § 54 RVG Rn 1) wollte und dass er dafür ihre Besserstellung bewusst in Kauf genommen hat.

Indizien dafür, dass § 54 RVG den Rechtsgedanken von § 628 Abs. 1 S. 2 BGB widerspiegelt, findet man v.a. in älterer oberlandesgerichtlicher Rechtsprechung. Noch bevor mit § 123 BRAGO a.F. eine Regelung geschaffen wurde, welche die Kürzung des Anspruchs des beigeordneten Rechtsanwalts gegen die Staatskasse ausdrücklich vorsah, versuchte man sich dort mit einer entsprechenden Anwendung des § 628 Abs. 1 S. 2 BGB auf den öffentlich-rechtlichen Entschädigungsanspruch zu behelfen (vgl. OLG Hamm JurBüro 1955, 191 f.; OLG Düsseldorf AnwBl 1951, 133, 133; OLG Naumburg JW 1936, 2158, 2158; KG JW 1934, 2496, 2496). Wenngleich hinsichtlich der dogmatischen Begründung Uneinigkeit zwischen den Gerichten herrschte, war die Notwendigkeit einer Kürzung des Anspruchs nach Maßgabe des § 628 Abs. 1 S. 2 BGB im Ergebnis unstreitig (eingehend Aly, a.a.O., S. 371 ff.). Es ist als eher unwahrscheinlich einzustufen, dass der Gesetzgeber die entsprechenden Ansätze nicht zur Kenntnis genommen hat. Gleiches gilt im Hinblick auf die Rechtsfolge, welche er für § 54 RVG gewählt hat. Ihr zufolge kann der Rechtsanwalt, wenn er schuldhaft die Beiordnung eines anderen Anwalts veranlasst hat, diejenigen Gebühren nicht fordern, die auch für den neuen Anwalt entstehen. Schon lange bevor § 123 BRAGO a.F. diese Rechtsfolge erstmals ausdrücklich vorsah, entsprach diese der allgemeinen Auslegungsweise in Bezug auf das Tatbestandsmerkmal des fehlenden Interesses bei § 628 Abs. 1 S. 2 BGB (vgl. nur OLG Naumburg JW 1936, 2158, 2158 m.w.N; Staudinger/Mohnen/Neumann, BGB, 11. Aufl. 1958, § 628 Rn 36). Wenngleich sich in den Gesetzesmaterialien kein ausdrücklicher Hinweis auf die Regelung des § 628 Abs. 1 S. 2 BGB finden lässt, spricht bei einer historischen Betrachtung vieles dafür, dass diese dem Gesetzgeber als Vorbild für § 54 RVG gedient hat.

Dass der Gesetzgeber die Anforderungen des § 54 RVG im Hinblick auf § 628 Abs. 1 S. 2 BGB jedoch nicht vereinfachen wollte, sondern dass ihm schlicht eine Ungenauigkeit unterlaufen sein könnte, lässt sich mit einem Blick in die seinerzeit aktuelle Rechtsprechung und Literatur belegen. Denn dort lässt sich vielfach eine Pauschalisierung dergestalt finden, dass § 628 Abs. 1 BGB „Verschulden zur Grundvoraussetzung” habe (Bach JW 1935, 1802, 1802). Treffe den Anwalt ein Verschulden an der Aufhebung des Auftrags, so stehe ihm gem. § 628 BGB ein Anspruch auf die Vergütung nicht zu (Friedlaender, RAGebO, 8. Aufl. 1927, § 50 Rn 5; Willenbücher, RAGebO, 15. Aufl. 1951, § 50 Rn 2). Oder aber es erfolgt der schlichte Hinweis, § 628 BGB greife ein, sofern ein Verschulden des Anwalts vorliege (KG JW 1935, 2496, 2496). Ein Indiz dafür, dass in der Folge auch der Gesetzgeber § 628 Abs. 1 S. 2 BGB fälschlicherweise stets mit einem Verschulden des Rechtsanwalts assoziiert haben könnte, findet sich in der Gesetzesbegründung zu § 13 BRAGO a.F. Dort wird ausgeführt, dass die Regelung des § 13 Abs. 4 BRAGO a.F., die weitestgehend dem heutigen § 15 Abs. 4 RVG entsprach, nichts an den Grundsätzen des § 628 BGB ändere. Insbesondere blieben die bürgerlich-rechtlichen Folgen, die sich aus einem Verschulden der Vertragsteile ergeben, unberührt (BT-Drucks 2/2545, S. 235 f.). Insofern spricht vieles dafür, dass das Verschuldensmerkmal auf eine Ungenauigkeit des Gesetzgebers zurückzuführen ist, der die Ausnahmefälle des § 628 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 BGB bei der Kodifizierung des § 54 RVG nicht im Blick gehabt zu haben scheint.

b) Verhältnis zu § 91 Abs. 2 S. 2 ZPO (Drei Szenarien auf dem Weg zur Kostenneutralität)

Obsiegt die mit Prozesskostenhilfe ausgestattete Partei, gehen die vertraglichen Ansprüche des Anwalts gegen seinen Mandanten nach § 59 Abs. 1 S. 1 RVG auf die Staatskasse über. Die Staatskasse kann die Kosten dementsprechend nur in dem Umfang ersetzt verlangen, in welchem es § 91 Abs. 2 S. 2 ZPO und § 628 Abs. 1 S. 2 BGB zulassen. Nach den zuvor dargestellten Grundsätzen (s.o. II.) sind dies nie mehr als die Kosten eines (beigeordneten) Rechtsanwalts. Richtigerweise darf im Verhältnis zwischen der Staatskasse und dem beigeordneten Rechtsanwalt nichts anderes gelten, wenn die mit Prozesskostenhilfe ausgestattete Partei unterliegt. Um eine ungewollte Besserstellung des beigeordneten Rechts...

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