1.1 Grundsätze der Interessenabwägung

Vollstreckungsschutz kann gewährt werden, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist. Die Entscheidung ist auf der Grundlage einer Interessenabwägung zu treffen, bei der das Interesse des Gläubigers an der sofortigen Räumung und die Auswirkungen der planmäßigen Vollstreckung auf den Schuldner gegeneinander abzuwägen sind.[1] Die jeweiligen Belange der Familienangehörigen des Gläubigers und des Schuldners sind dabei ebenfalls zu berücksichtigen; Belange Dritter scheiden aber aus. Vollstreckungsschutz kann gewährt werden, wenn die Abwägung eindeutig zugunsten des Schuldners ausgeht.[2] In allen anderen Fällen sind die Interessen des Gläubigers vorrangig.

Das Gericht muss

  1. ermitteln, welche Härtegründe in der Person des Mieters vorliegen;
  2. feststellen, welches Interesse der Vermieter an der Räumung hat;
  3. untersuchen, welche Maßnahmen in Betracht kommen, um die Härten zu mindern oder zu beseitigen;
  4. prüfen, ob diese Maßnahmen dem Mieter zugemutet werden können.
 
Hinweis

Vermieter muss zu seinem Recht kommen

Es gilt der Grundsatz, dass die Gerichte dem Vermieter zu seinem Recht verhelfen müssen; insbesondere dürfen dem Vermieter keine Aufgaben überbürdet werden, die dem Staat obliegen. Deshalb kann eine Einstellung der Zwangsvollstreckung auf unbestimmte Zeit nur "in absoluten Ausnahmefällen" in Betracht kommen.[3] Grundsätzlich ist sie zu befristen und mit Auflagen einzustellen.[4]

[2] Stein/Jonas/Münzberg, § 765 a ZPO Rn. 5; Zöller/Stöber, § 765 a ZPO Rn. 6; Baumbach/Lauterbach/Hartmann, § 765 a ZPO Rn. 2; Walker/Gruß, in NJW 1996, S. 352.
[4] BGH, Beschluss v. 9.10.2013, I ZB 15/13.

1.2 Einzelfälle

1.2.1 Gesundheits- und Lebensgefahr

Eine sittenwidrige Härte liegt insbesondere dann vor, wenn die Vollstreckung mit einer erheblichen Gesundheits- oder gar Lebensgefahr für den Schuldner verbunden ist. Die mit der Vollstreckung verbundenen physischen oder psychischen Belastungen des Schuldners oder seiner Angehörigen genügen nicht. Auch das Bestehen einer lebensbedrohlichen Erkrankung wie einer Krebserkrankung reicht für sich genommen nicht aus.

 
Wichtig

Verschlimmern der Krankheit und Drohen von Lebensgefahr zu erwarten

Es genügt aber, wenn der Schuldner an einer Erkrankung leidet und die Zwangsräumung eine Verschlechterung seines Gesundheitszustands und als deren Folge eine Gefahr für das Leben des Schuldners oder schwerwiegende gesundheitliche Risiken erwarten lässt.[1]

Die Belange der nahen Angehörigen des Schuldners sind ebenfalls zu berücksichtigen.

 
Praxis-Beispiel

Härtegrund: Suizidgefahr der Schwester

Deshalb kann ein Härtegrund vorliegen, wenn die Schwester des Räumungsschuldners bei einer Räumung suizidgefährdet ist.[2]

Die Prüfung darf sich nicht darauf beschränken, ob die Zwangsräumung als solche ohne Gefahr für das Leben oder die Gesundheit durchgeführt werden kann. Vielmehr sind auch eventuelle weitere Beeinträchtigungen, die sich insbesondere aus der Anpassung an eine fremde Umgebung ergeben können, zu berücksichtigen.[3]

 
Praxis-Beispiel

Härtegrund: Krebserkrankung

Es genügt jedoch, wenn durch die Räumungsvollstreckung die Behandlung einer lebensbedrohlichen Erkrankung verhindert oder gefährdet wird.[4]

Körperliche Unversehrtheit

Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit[5] hat gegenüber dem Räumungsinteresse des Gläubigers Vorrang.[6]

Gibt es andere Möglichkeiten als die Verfahrenseinstellung?

Dies bedeutet nicht, dass die Zwangsräumung bei jeder konkreten Möglichkeit einer Lebens- oder Gesundheitsgefahr eingestellt werden müsste; die Interessen des Gläubigers sind auch hier zu berücksichtigen.[7] Generell setzt Vollstreckungsschutz voraus, dass die Gefahr nicht auf andere Weise als durch die Einstellung der Vollstreckung abgewendet werden kann.

 
Hinweis

Darlegungslast des Schuldners (= Mieters)

Darlegungspflichtig ist der Schuldner.[8]

Jedoch haben die Belange des Schuldners hier einen so hohen Stellenwert, dass die Interessen des Gläubigers, wenn sie nicht ganz besonders schwer wiegen, zurücktreten müssen.[9] Es kommt dabei nicht darauf an, ob die Gefahr, z. B. die Drohung mit einem Suizid, auf einer psychischen Erkrankung oder auf anderen persönlichkeitsbedingten Ursachen beruht. Maßgeblich ist allein, dass der Mieter unfähig ist, auf eine Konfliktsituation angemessen zu reagieren.[10] Der Schuldner muss allerdings aktiv daran mitwirken, dass sich das geltend gemachte Risiko nicht realisiert. Vom Schuldner kann jedes zumutbare Bemühen um eine Verringerung des Risikos verlangt werden.

 
Praxis-Beispiel

Aktives Mitwirken des Schuldners (= Mieters)

Insbesondere muss er sich in ärztliche Behandlung begeben. Ist eine stationäre Behandlung notwendig, muss sich der Schuldner auch einer solchen Behandlung unterziehen. Bricht der Schuldner entgegen ärztlichem Rat eine stationäre Behandlung ab, so ist dies entsprechend zu wü...

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