Leitsatz

Der BGH hat sich in dieser Entscheidung mit einer Fallkonstellation auseinandergesetzt, dass jemand, der über mehrere Jahrzehnte keinen Kontakt zu einem Elternteil hatte, vom Sozialamt auf Zahlung von Unterhalt in Anspruch genommen wurde, weil dieser Elternteil in einem Pflegeheim zu Lasten des Sozialhilfeträgers lebte. Schwerpunkt war die Frage der Verwirkung des Unterhalts sowie der unbilligen Härte einer Heranziehung des Kindes durch den Sozialhilfeträger.

 

Sachverhalt

Die Klägerin als Trägerin der öffentlichen Hilfe, die der Mutter des Beklagten seit November 2005 gewährt wurde, nahm den Beklagten auf Zahlung von Elternunterhalt für dessen Mutter aus übergegangenem Recht in Anspruch.

Die Mutter des Beklagten litt schon während seiner Kindheit an einer Psychose mit schizophrener Symptomatik und damit einhergehend an Antriebsschwäche und Wahnideen. Der im Jahre 1961 geborene Beklagte wurde von ihr bis zur Trennung und Scheidung von ihrem damaligen Ehemann im Jahre 1973 mit Unterbrechungen aufgrund zum Teil längerer stationärer Krankenhausaufenthalte erzogen und versorgt. Seit spätestens 1977 bestand bis auf gelegentliche Zusammentreffen bei Familienfeiern kein Kontakt mehr zwischen dem Beklagten und seiner Mutter.

Die Klägerin forderte den Beklagten mit Rechtswahrungsanzeige vom 9.11.2005 zur Auskunftserteilung auf. Der Beklagte erteilte Auskunft und berief sich im Übrigen auf Verwirkung gemäß § 1611 BGB. Im Übrigen wandte der Beklagte ein, der Unterhaltsanspruch seit wegen Zeitablaufs verwirkt, weil er vom Sozialhilfeträger für einen länger als ein Jahr zurückliegenden Zeitraum geltend gemacht worden sei. Nach Bezifferung des Anspruchs im Dezember 2006 und Zahlungsaufforderung im März 2007 hat die Klägerin im April 2008 Klage erhoben. Das erstinstanzliche Gericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben. Die hiergegen von dem Beklagten gerichtete Berufung blieb ebenso wie die Revision ohne Erfolg.

 

Entscheidung

Nach Auffassung des BGH stand einem Anspruchsübergang nach § 94 SGB XII eine an sich unter § 1611 BGB fallende Sachverhaltskonstellation nicht entgegen. Dies gelte auch, wenn nicht alle Tatbestandsmerkmale dieser Norm erfüllt seien und deshalb der Unterhaltsanspruch nicht verwirkt sei. Dies beruhe darauf, dass eine zivilrechtlich einzuordnende Störung familiärer Beziehungen noch keine unbillige Härte i.S.d. § 94 Abs. 3 SGB XII begründe.

Etwas anderes gelte nur dann, wenn der zu beurteilende Lebenssachverhalt auch soziale Belange erfasse und ein erkennbarer Bezug zum Sozialhilferecht, insbesondere ein kausaler Zusammenhang zum Handeln des Staates, vorliege. Insoweit sei dieser Fall von dem im April 2004 entschiedenen Fall eines psychisch erkrankten Kriegsheimkehrers abzugrenzen (BGH, Urt. v. 21.4.2004 - XII ZR 251/01, FamRZ 2004, 1097).

Krankheitsbedingte Betreuungs- und Versorgungsdefizite allein seien nicht geeignet, eine Verwirkung des Unterhaltsanspruchs nach § 1611 Abs. 1 BGB zu begründen. Wie ein Barunterhalt schuldender Elternteil bei wirtschaftlicher Leistungsunfähigkeit sei ein Elternteil, der krankheitsbedingt zur Betreuung eines Kindes nicht in der Lage sei, dazu auch nicht verpflichtet, so dass eine "gröbliche Vernachlässigung der Unterhaltspflicht" nicht vorliege.

Nach Auffassung des BGH stellte es auch keine schwere Verfehlung dar, dass der Beklagte von seiner Mutter mehrfach ausgesperrt und durch die Betreuungsdefizite ein Waschzwang bei ihm entstanden war. Eine schwere Verfehlung sei auch nicht darin zu sehen, dass ihm die Beklagte die Kleider zerschnitten habe. Auch die jahrzehntelange Kontaktlosigkeit könne insoweit nicht als schwere Verfehlung angesehen werden, weil tatsächlich letztendlich sich der Beklagte geweigert habe, Kontakt aufzunehmen und die Kontaktlosigkeit auch der Erkrankung der Mutter geschuldet sei. Der Verwirkungsgrund der "schweren Verfehlung" setze jedoch ein Verschulden voraus, das angesichts des krankheitsbedingten Verhaltens der Mutter nicht gegeben sei.

Hinsichtlich der Verwirkung des Unterhaltsanspruchs durch Zeitablauf nach § 242 BGB bestätigte der BGH seine Rechtsprechung, wonach bei Unterhaltsansprüchen an das Zeitmoment der Verwirkung keine strengen Anforderungen zu stellen seien, weil der Unterhaltsgläubiger zur zeitnahen Durchsetzung seines existenzsichernden Unterhaltsanspruchs angehalten sei. Deswegen bleibe es dabei, dass Unterhaltsansprüche, die etwas mehr als ein Jahr zurücklägen, verwirkt seien (BGH, Urt. v. 23.10.2002 - XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698, 1699). Diese Anforderungen hätten auch dann Geltung, wenn die aus übergegangenem Recht klagende Behörde tätig sei. Zwar sei diese nicht lebensnotwendig auf die Realisierung der Forderung angewiesen. Jedoch sei die Behörde aufgrund der Natur, des Inhalts und des Umfangs des Unterhaltsanspruchs, der sich durch den Übergang nicht verändere, gehalten, sich um dessen zeitnahe Durchsetzung zu bemühen.

Neben dem Zeitmoment komme es für die Verwirkung auf das Umstandsmoment an. Das Umstandsmoment sei geg...

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