Rz. 1

Die türkische Republik hat seit ihrer Gründung im Jahre 1923 einen steten und bedeutenden Rezeptionsprozess in ihrem Rechtssystem erlebt. Dies begann mit der Abschaffung des islamischen Rechts (Scharia), das den neuen Entwicklungen in der Welt nicht Rechnung tragen konnte.[1] Im Bereich des Zivilrechts griff man zurück auf das Bürgerliche Gesetzbuch der Schweiz, das 1912 in Kraft trat und zur damaligen Zeit im Vergleich zu anderen Ländern das modernste war. Der zweite bedeutende Reformprozess im türkischen Familienrecht war angesichts der sozioökonomischen und den damit einhergehenden gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg – insbesondere auf dem Gebiet des Familienrechts – überfällig geworden. Dies wurde noch einmal deutlich, als das türkische Verfassungsgericht im Jahre 1992 den verfassungswidrigen Art. 159 türkZGB aufhob,[2] der die Erlaubnis des Ehemannes für die Arbeitstätigkeit der Ehefrau verlangte.[3] Angesichts der internationalen Verpflichtungen der Türkei waren zahlreiche Vorschriften des türkZGB nicht mehr zeitgemäß und insbesondere im Bereich der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau war eine Reform nötig geworden.[4]

 

Rz. 2

Der türkische Gesetzgeber hat am 22.11.2001 ein neues Zivilgesetzbuch verabschiedet, welches das vorher gültige türkZGB reformierte und gleichzeitig die bisherige Systematik mit einigen kleinen Ausnahmen beibehielt.[5] Das alte Gesetzbuch bestand aus 937 Artikeln, das reformierte Gesetzbuch beinhaltet insgesamt 1030 Artikel. Bei der Vorbereitung des neuen Gesetzes hat der Gesetzgeber insbesondere das schweizerische, deutsche und französische BGB mit seinen Entwicklungen und seiner Praxis berücksichtigt. Berücksichtigung fanden im Gesetz auch die "Konvention zur Abschaffung aller Diskriminierungen gegen Frauen"[6] vom 3.9.1981, die seit dem 14.10.1985 als innerstaatliches Recht der Türkei gilt,[7] und das "Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption" vom 29.5.1993.[8] Die Verwirklichung der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau und der Schutz der Kinder bilden die Hauptachse der Gesetzesreform. Darüber hinaus wurde die Sprache des Gesetzes weitgehend vom "Alttürkischen" (Osmanisch)[9] befreit und durch die moderne türkische Sprache ersetzt, mit Ausnahme von Rechtsbegriffen, die Rechtsinstitutionen beschreiben und nicht ohne Weiteres mit türkischen Begriffen zu ersetzen sind.[10]

[1] Für eine kurze Ausführung zur Geschichte des türkischen ZGB siehe Hirsch, Türkisches Recht vor deutschen Gerichten, Berlin 1981, S. 7–9.
[2] Anayasa Mahkemesi Karari (Urteil des Verfassungsgerichts) 29.11.1990, E. 1990/30, K. 1990/31; Resmi Gazete (türk. Amtsblatt) Nr. 21272, S. 5–18.
[3] Kiliç, Die Reform im türkischen Familienrecht bahnt den Weg zur Gleichberechtigung, FamRZ 1993, 1282 ff.
[4] Bereits im Jahre 1951 hat das türkische Justizministerium eine Kommission zu diesem Zweck gegründet, die ihren Vorschlag erst im Jahre 1971 vorgelegt hat. In den Jahren 1974, 1976 und 1981 wurden zwei weitere Kommissionen mit der gleichen Aufgabe betraut, deren Vorschläge jedoch keine Chance auf Verwirklichung hatten (siehe dazu das Vorwort des Justizministers der Republik Türkei Hikmet Sami Türk, Türk Medeni Kanunu Tasarisi ve TMKnin yürürlügü ve uygulama sekli hakkinda kanun tasarisi, T.C. Adalet Bakanligi, Ankara 1999, S. VI ff.). Der damalige Justizminister der Türkei, Seyfi Oktay, hat im Jahre 1994 eine Kommission zur Reform des türkZGB einberufen. Zwei Jahre später kam die islamistisch orientierte "Refahpartei" als größere Koalitionspartei an die Macht und stellte einen Justizminister, der die Arbeit der Kommission weitgehend verhindert hat. Die darauf folgende Regierung hat als Justizminister Hikmet Sami Türk gestellt, der die Arbeit der Kommission wieder ermöglicht und beschleunigt hat (vgl. Kilicoglu, Edinilmis Mallara Katilma Rejimi, S. 4).
[5] Veröffentlicht am 8.12.2001 im türk. Amtsblatt (Resmi Gazete Nr. 24607), Nr. 4721; dieses trat gem. Art. 1029 türkZGB am 1.1.2002 in Kraft. Für die Übersetzung des familienrechtlichen Teils ins Deutsche siehe Rumpf/Odendahl, Das neue türkische Zivilgesetzbuch, StAZ, 4/2002, 100 ff.
[6] "Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women" in: General Assembly-Official Records: Thirty-Fourth Session Supplement No. 46 (A/34/46), United Nation, New York, 1980, S. 193–198.
[7] Mit der Veröffentlichung im türk. Amtsblatt (Nr. 18898) v. 14.10.1985 trat diese Konvention in der Türkei in Kraft.
[8] Vorwort des Justizministers der Republik Türkei Hikmet Sami Türk, Türk Medeni Kanunu Tasarisi ve TMKnin yürürlügü ve uygulama sekli hakkinda kanun tasarisi, T.C. Adalet Bakanligi, Ankara 1999, S. VII; Allgemeine Begründung des Gesetzes; Kilicoglu, Edinilmis Mallara Katilma Rejimi, S. 4.
[9] Diese Sprache nennt man "Osmanisch", eine Mischung aus Persisch, Arabisch und Türkisch.
[10] Eine Auflistung dieser Begriffe ist in der allgemeinen Be...

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