4.1 Vorbemerkung

 

Rz. 68

§ 75 Abs. 2 Satz 1 BetrVG verpflichtet Arbeitgeber und Betriebsrat dazu, die freie Entfaltung der Persönlichkeit der Arbeitnehmer des Betriebs zu schützen und zu fördern. Die Betriebsparteien haben danach nicht nur Maßnahmen, die der freien Persönlichkeitsentfaltung entgegenstehen, abzuwehren, sondern sind verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die Arbeitsbedingungen, die im Betrieb herrschen, die freie Persönlichkeitsentfaltung fördern.[1]

§ 75 Abs. 2 Satz 1 BetrVG begründet Schutz- und Förderpflichten. Der Schutz und die Verwirklichung der Persönlichkeit des Arbeitnehmers wird durch diese Regelung als eine Aufgabe des Arbeitsrechts gesetzlich statuiert (BAG, Urteil v. 15.4.2014, 1 ABR 2/13).

[1] ErfK/Kania, § 75 BetrVG Rz. 9.

4.2 Adressaten

 

Rz. 69

Die Pflichten nach § 75 Abs. 2 BetrVG gelten für Arbeitgeber und Betriebsrat, ebenso wie für die einzelnen Betriebsratsmitglieder. Sie sind sowohl bei der Ausübung des Mitbestimmungsrechts als auch bei der Entscheidung der Einigungsstelle zu beachten (BAG, Urteil v. 25.4.2017, 1 ABR 46/15). Nicht in ihren Geltungsbereich fallen dagegen die einzelnen Arbeitnehmer des Betriebs. Sie sind jedoch aufgrund ihrer arbeitsvertraglichen Treuepflicht gehalten, die Persönlichkeitsrechte des Arbeitgebers nicht zu verletzen. Im Hinblick auf die Arbeitnehmer untereinander ergibt sich die Verpflichtung, gegenseitig die Persönlichkeitsrechte zu wahren, aus der Regelung des § 823 Abs. 1 BGB. Nach der Rechtsprechung[1] ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein "sonstiges Recht" i. S. d. § 823 Abs. 1.

[1] Z. B. BGHZ 50, 136.

4.3 Schutzumfang

 

Rz. 70

§ 75 Abs. 2 Satz 1 BetrVG begründet Amtspflichten von Arbeitgeber und Betriebsrat, bei deren Verletzung Maßnahmen nach § 23 Abs. 1 oder 3 BetrVG die Folge sein können. Die Regelung gibt dagegen dem einzelnen Arbeitnehmer keinen individuellen Anspruch gegen den Arbeitgeber und den Betriebsrat auf Schutz und Förderung der Persönlichkeitsrechte. Der einzelne Arbeitnehmer kann daher vom Betriebsrat kein bestimmtes Tun oder Unterlassen i. S. d. Abs. 2 verlangen.[1]

[1] Fitting/Engels, § 75 BetrVG Rz. 141.

4.4 Schutzpflicht

 

Rz. 71

Nach § 75 Abs. 2 BetrVG sind Arbeitgeber und Betriebsrat zum Schutz der freien Entfaltung der Persönlichkeit des Arbeitnehmers verpflichtet. Diese Verpflichtung stellt eine Schranke sowohl für ihre Regelungsbefugnis als auch für den Inhalt der von ihnen getroffenen Regelungen, z. B. in Betriebsvereinbarungen, dar (so BAG, Urteil v. 25.4.2017, 1 ABR 46/15). Die in § 75 Abs. 2 Satz 1 BetrVG normierte Schutzpflicht verpflichtet die Betriebsparteien, rechtswidrige Verletzungen der Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer zu verhindern und Einschränkungen der Persönlichkeitsrechte nur vorzunehmen, soweit dies aufgrund berechtigter betrieblicher Interessen, insbesondere auch im Interesse der anderen Arbeitnehmer und eines ungestörten Arbeitsablaufs erforderlich ist.[1] Das BAG hat bereits 2004 in seiner Entscheidung zur Videoüberwachung (BAG, Urteil v. 29.6.2004, 1 ABR 21/03) Grundsätze aufgestellt, die bei der Einschränkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu beachten sind. Danach muss der Eingriff, sofern er nicht durch Gesetz ausdrücklich zugelassen ist, durch schutzwürdige Belange des Arbeitgebers gerechtfertigt sein. Kollidieren beide Rechtspositionen miteinander, hat eine umfassende Güterabwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles zu erfolgen. Dabei bestimmt sich das zulässige Maß des Eingriffs nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (BAG, Urteil v. 25.4.2017, 1 ABR 46/15). Diese Grundsätze sind auch bei der Ausübung von Mitbestimmungsrechten zu beachten. Eine Betriebsvereinbarung, die gegen diesen Grundsatz verstößt und das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer verletzt, ist deshalb unwirksam und darf nicht angewendet werden (LAG Köln, Beschluss v. 18.8.2010 3 TaBV 15/10).

Nachfolgend seien einige Beispiele für eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte bzw. für Maßnahmen, die nicht zu einer solchen Verletzung führen, genannt.

 

Rz. 72

Verdeckte Zuverlässigkeitsüberprüfungen von Arbeitnehmern, z. B. im Rahmen von sog. Social Engineering Audits, bei denen vom Arbeitgeber beauftragte externe Dienstleister testen sollen, ob (IT-)Sicherheitsanweisungen von den Arbeitnehmern befolgt werden, sind nur unter engen Voraussetzungen zulässig und nur im Ausnahmefall einer Notwehrsituation des Arbeitgebers gerechtfertigt. Eine solche Notwehrsituation liegt vor, wenn der konkrete Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer anderen schweren Verfehlung zulasten des Arbeitgebers besteht, sich dieser Verdacht gegen einen räumlich und funktional begrenzbaren Kreis von Arbeitnehmern richtet, die weniger einschneidenden Mittel zur Aufklärung ergebnislos ausgeschöpft sind und die verdeckte Überprüfung de facto das einzige verbleibende, insgesamt nicht unverhältnismäßige Mittel ist (vgl. BAG, Urteil v. 27.7.2017, 2 AZR 681/16).

 

Rz. 73

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