Entscheidungsstichwort (Thema)

Ordnungswidrigkeiten. Verwerfungsurteil. Wartefrist des Gerichts. Fürsorgepflicht. faires Verfahren. Wartefrist bis zum Erlass des Verwerfungsurteils nach § 74 Abs. 2 OWiG

 

Leitsatz (amtlich)

Im Hinblick auf das Gebot fairer Verfahrensführung und die sich daraus ergebende prozessuale Fürsorgepflicht ist eine gewisse Verspätung des Betroffenen in Rechnung zu stellen, wenn dieser ohne ausreichende Entschuldigung nicht pünktlich zur Hauptverhandlung erschienen ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er nicht mehr erscheinen werde. Eine Wartezeit von 15 Minuten bis zu einer Verwerfungsentscheidung ist angemessen. Eine über 15 Minuten hinausgehende Wartepflicht besteht dagegen regelmäßig nicht.

 

Normenkette

OWiG § 74 Abs. 2

 

Verfahrensgang

AG Jena (Aktenzeichen 631 Js 13421/10 - 11 OWi)

 

Tenor

Die Rechtsbeschwerde wird auf Kosten des Betroffenen verworfen.

 

Gründe

I. Dem Betroffenen wird vorgeworfen, als Führer des Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen ERZ - SK 345 am 27.09.2009 gegen 18.23 Uhr auf der Bundesautobahn 4 in Richtung Dresden bei Kilometer 171,0 die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 22 km/h überschritten zu haben. Wegen dieser Verkehrsordnungswidrigkeit wurde gegen den Betroffenen mit Bußgeldbescheid der Zentralen Bußgeldstelle der Thüringer Polizei vom 17.12.2009 eine - im Hinblick auf Voreintragungen im Verkehrszentralregister erhöhte - Geldbuße von 140,- € festgesetzt. Gegen den Bußgeldbescheid erhob der Betroffene form- und fristgerecht Einspruch.

In der in Anwesenheit seines Verteidigers durchgeführten Hauptverhandlung am 04.03.2011 hat das Amtsgericht Jena den Einspruch wegen unentschuldigten Ausbleibens des Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Gegen das Verwerfungsurteil, das seinem Verteidiger am 24.03.2011 zugestellt worden ist, richtet sich die am 29.03.2011 erhobene und am 02.05.2011 mit der allgemeinen Sachrüge sowie mit der Verfahrensrüge der Verletzung rechtlichen Gehörs begründete Rechtsbeschwerde des Betroffenen.

Mit der Verfahrensrüge trägt der Betroffene unter anderem Folgendes vor:

Die Hauptverhandlung sei auf 10.00 Uhr anberaumt gewesen. Um 10.03 Uhr habe er, der Betroffene, seinem Verteidiger auf dessen Mobiltelefon eine SMS-Mitteilung folgenden Inhalts geschickt: "Haben uns verspätet. Bin gleich da." Diese Nachricht habe sein Verteidiger dem Tatrichter vorgelesen. Dieser habe hierauf bis "ca. 10.30 Uhr" gewartet und sodann den Einspruch verworfen. Dem Rügevorbringen des Betroffenen lässt sich außerdem entnehmen, dass er im Pkw seines Cousins, des Zeugen Stefan Wieland, mitgefahren sei, welcher der wahre Fahrer des Tatfahrzeugs gewesen sei und zum Zwecke seiner Vernehmung und seines Vergleichs mit der auf den Messfotos abgebildeten Person vor Gericht habe erscheinen sollen. Ihre Verspätung sei darauf zurückzuführen, dass der im Rollstuhl sitzende Zeuge mit seiner, des Betroffenen Hilfe eine Treppe habe überwinden müssen, um in das Gerichtsgebäude zu gelangen. Der Betroffene ist der Meinung, dass "die vom Gericht eingeräumte Wartezeit von 30 min nicht ausreichend" gewesen ist und der Tatrichter verpflichtet gewesen wäre, länger zu warten.

Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 20.06.2011 beantragt, auf die erhobene Gehörsrüge die Rechtsbeschwerde zuzulassen, das Verwerfungsurteil aufzuheben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Jena zurückzuverweisen.

Mit Beschluss vom 26.08.2011 hat die zuständige Einzelrichterin des Senats auf das als Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde anzusehende form- und fristgerecht eingelegte und begründete Rechtsmittel des Betroffenen die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung auf dem Gebiet des Verfahrensrecht zugelassen und die Sache dem Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.

II. 1. Die zugelassene Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

a) Die vom Betroffenen mit der Verfahrensrüge vorgebrachte Beanstandung, der Tatrichter hätte seinen Einspruch nicht schon nach einer Wartezeit von 30 Minuten nach § 74 Abs. 2 OWiG verwerfen dürfen, ist unbegründet.

Der Betroffene ist i.S.d. § 74 Abs. 2 OWiG in der Hauptverhandlung ausgeblieben, wenn er zu deren Beginn nicht erscheint (vgl. Göhler, OWiG, 15. Aufl., § 74 Rn. 28).

Ist der Betroffene ohne Entschuldigung nicht pünktlich zur Hauptverhandlung erschienen, soll der Tatrichter allerdings im Hinblick auf das Gebot fairer Verfahrensführung und die sich daraus ergebende Fürsorgepflicht zur Einhaltung einer Wartezeit von 15 Minuten vor Verwerfung des Einspruchs verpflichtet sein. Dabei soll es unter Umständen sogar geboten sein, längere Zeit auf das Erscheinen des Betroffenen zu warten, etwa wenn dieser sein alsbaldiges Erscheinen innerhalb angemessener Zeit angekündigt hat oder sonst damit zu rechnen ist (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 24.08.2007, 2 Ss-OWi 223/07; KG Berlin, Beschlüsse vom 05.05.1997, (4) 1 Ss...

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