Entscheidungsstichwort (Thema)

Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Begutachtung im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung. Diagnostik vestibulärer Störungen mittels Corpocraniographie. neurootologische Untersuchung nach der sog "Würzburger Schule". Chronifizierung eines Leidens. Chronic-Fatique-Syndrom. Diagnosesystem

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine Untersuchung mittels Corpocraniographie (CCG) ist für die Diagnostik vestibulärer Störungen nach dem allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht erforderlich.

2. Die neurootologische Untersuchung nach der sog "Würzburger Schule" ist nur gering verbreitet und entspricht nicht dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand.

3. Die Chronifizierung eines Leidens besagt nichts zum Umfang der Leistungseinschränkung und zur Qualität oder bestimmten Qualität von Leistungseinbußen (vgl LSG Erfurt vom 27.11.2012 - L 6 R 851/09 und LSG Berlin vom 22.7.2004 - L 3 RJ 15/03).

4. Zum Krankheitsbild des Chronic-Fatique-Syndroms (CFS).

 

Orientierungssatz

Bei der Begutachtung im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung ist kein Diagnosesystem vorgeschrieben.

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 2. Juli 2002 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bzw. wegen Erwerbsminderung streitig.

Der 1967 geborene Kläger erlernte von 1984 bis 1986 den Beruf des Facharbeiters für Qualitätskontrolle (Zeugnis über die Berufsausbildung vom 15. Juli 1986) und war bis 1988 in diesem Beruf tätig. Vom 27. September bis 31. Dezember 1993 war er als Hilfsarbeiter (Lackierer und Grundierer) bei der Tischlerei P. N. in B. tätig. Nach eigenen Angaben erlitt er dort am 22. Oktober 1993 bei der Besprühung von Fensterrahmen mit einer Grundierung eine Vergiftung. Vom 23. bis 25. Oktober 1993 befand er sich in stationärer Behandlung im Kreiskrankenhaus “Chr. W. H.„. Die Diagnose im Arztbrief vom 1. Februar 1994 lautete: Verdacht auf Gastritis nach Ammoniakinhalation. Danach war er arbeitsunfähig erkrankt und bezog bis Oktober 2001 Sozialversicherungsleistungen und nach eigenen Angaben von August 1994 bis 2007 eine Verletztenrente von der Holz-Berufsgenossenschaft (Holz-BG) bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. Vom 18. Juni 2002 bis zum 12. Juni 2004 bezog er Leistungen der Bundesagentur für Arbeit. Ab dem 1. August 2008 war er zeitweise geringfügig beschäftigt.

Auf seinen Rentenantrag vom Juli 1996 zog die Beklagte u.a. den Rehabilitationsentlassungsbericht der B.-Klinik St. vom 22. November 1996 bei (Diagnosen: neurotische Entwicklung bei Zustand nach Carbamatintoxikation 1993, psychosexueller Entwicklungsrückstand; Leistungsbild: mittelschwere Arbeiten ohne besonderen Zeitdruck vollschichtig) und lehnte mit Bescheid vom 13. Januar 1997 die Bewilligung einer Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 22. August 1997).

Auf die Klageerhebung (Az.: S-4/J-968/97) hat das Sozialgericht Nordhausen diverse ärztliche Befundberichte und medizinische Unterlagen beigezogen, u.a. einen Befundbericht des praktischen Arztes F. vom 1. März 1998, und - nachdem der Kläger die Untersuchung bei zwei anderen Sachverständigen abgelehnt hatte - ein Gutachten bei Prof. Dr. F.-B. beauftragt. Dieser hat ohne Rücksprache mit dem SG ein neuropsychologisches Gutachten des Dr. H. vom 20. Mai 2001 in Auftrag gegeben und dem SG übermittelt. Nach dem Gutachten des Prof. Dr. F.-B. vom 15. August 2001 leidet der Kläger an hirnorganischen Funktionsstörungen im Sinne einer toxischen Enzephalopathie nach Inhalation der Mischung von Lösungsmitteln und Carbamat. Er könne nur noch leichte körperliche Arbeiten ein bis zwei Stunden pro Tag verrichten.

Den Antrag des Prof. Dr. F.-B. auf Genehmigung des Gutachtens des Dr. H. hat das Sozialgericht Nordhausen am 17. September 2001 und den Antrag auf Entschädigung mit Beschluss vom 5. März 2002 (Az.: S 4 SF 1305/01) abgelehnt. Die Beschwerde hat der erkennende Senat mit Beschluss vom 3. März 2003 (Az.: L 6 B 25/02 SF) zurückgewiesen.

Ausweislich des im Auftrag der Holz-BG erstellten und vom Sozialgericht Nordhausen beigezogenen Gutachtens der Prof. Dr. E. vom 27. April 2001 sind sowohl die zentralnervöse Symptomatik mit Schwindel und Sehstörungen als auch die körperliche Leistungsminderung mit Muskelschmerzen und “Muskelzittern„ des Klägers auf eine Carbamatexposition zurückzuführen. Er sei nicht mehr in der Lage, einer geregelten Erwerbsarbeit nachzugehen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 100 v. H.

Mit Beschluss vom 18. Januar 2002 hat das Sozialgericht Nordhausen den Rechtsstreit an das Sozialgericht Gotha verwiesen. Eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung durch Sachverständigen Dr. O. hat der Kläger abgelehnt. Mit Urteil vom 2. Juli 2002 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen.

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