Das Wichtigste in Kürze:

1. Das europäische Gemeinschaftsrecht, besteht neben den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten; es ist von diesen unabhängig und eigenständig.
2. Das Gemeinschaftsrecht hat absoluten Vorrang vor nationalem Recht einschließlich Verfassungsrecht.
3. Auch die Rechtsprechung des BVerfG geht im Grundsatz ebenfalls vom Vorrang des Unionsrechts aus.
4. Das Recht der Union auszulegen, ist ausschließlich dem EuGH vorbehalten (Art. 267 AEUV).
 

Rdn 1454

 

Literaturhinweise:

s. → Rechtsmittel/Rechtsbehelfe, Allgemeines, Teil A Rdn 1289, m.w.N.

 

Rdn 1455

1.a) Die europäische Rechtsordnung, das Gemeinschaftsrecht, besteht neben den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten; sie ist von diesen unabhängig und eigenständig (EuGH DRsp Nr. 2006/15863 = Slg. 1964, 1251; BVerfGE NJW 1968, 348; NJW 1971, 2122). Sie besteht aus primären und sekundären Rechtsquellen.

 

Rdn 1456

Einen positiven Ausblick auf die Fortschreibung des Verfahrensrechts lässt die Entwicklung im Bereich des Unionsrechts zu. Dabei wäre es zunächst ungerecht, Deutschland als "verfahrensrechtliches Schmuddelkind" zu charakterisieren, weshalb der Anlass für ein gemeinschaftsrechtliches Regelungsbedürfnis seitens der Union in erster Linie in anderen Ländern zu verorten ist. Aufgrund seiner Vorrangstellung gewinnt das Unionsrecht aber auch immer mehr an Einfluss auf das deutsche Verfahrensrecht. Gerade durch die Charta der europäischen Grundrechte, deren Auslegung maßgeblich durch die Rechtsprechung des EGMR geprägt ist, entfalten dessen Entscheidungen nunmehr ebenso Bindungswirkung wie dies für grundrechtsbezogene Entscheidungen des EuGH bereits bislang gilt. Ein Nachholbedarf besteht bei den deutschen Gerichten bis hin zum BVerfG jedoch noch insoweit, als diesen – z.B. im Zusammenhang mit der Auslegung von Charta oder SDÜ – in der Tat Entscheidungskompetenz entzogen wird (vgl. § 1 EuGHG), wogegen erheblicher Widerstand zu spüren ist.

 

Rdn 1457

 

b) Schaubild: Gemeinschaftsrecht

 

Rdn 1458

2. Das Gemeinschaftsrecht hat absoluten Vorrang vor nationalem Recht einschließlich Verfassungsrecht (Streinz/Streinz EUV Art. 4 Rn 35), da es nur auf diese Weise Wirkung entfalten ("effet utile") und einheitlich für sämtliche Mitgliedstaaten Geltung beanspruchen kann (Satzger, Rn 12). Der Vorrang ergibt sich u.a. aus der Sanktionspflicht der Mitgliedstaaten (EuGH, Beschl. v. 21.9.1989 – Rs. 68/88 Slg. 1989, 2965). Nach Art. 325 AEUV ist der noch in Art. 209a EGV enthaltene Vorbehalt, wonach die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege unberührt bleiben, entfallen.

 

Rdn 1459

Im Zusammenhang mit einer sich aus der Einführung jüngerer innerstaatlichen Regelungen (lex posterior) ergebenden Kollisionslage hat der EuGH (NJW 1999, 201) entschieden: "Die Unvereinbarkeit einer später ergangenen Vorschrift des innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht führt nicht dazu, dass diese Vorschrift inexistent ist. In dieser Situation ist das nationale Gericht verpflichtet, diese Vorschrift unangewendet zu lassen, wobei diese Verpflichtung nicht die Befugnis der zuständigen nationalen Gerichte beschränkt, unter mehreren nach der innerstaatlichen Rechtsordnung in Betracht kommenden Wegen diejenigen zu wählen, die zum Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht gewährten individuellen Recht geeignet erscheinen."

 

Rdn 1460

3.a) Auch die Rechtsprechung des BVerfG geht in den "Solange"-Entscheidungen (BVerfGE 22, 293 = NJW 1968, 348; BVerfGE 73, 339 = NJW 1987, 577), der Maastricht-Entscheidung (BVerfGE 89, 155 = NJW 1993, 3047) und der Bananenmarkt-Entscheidung (BVerfGE 102, 147 = NJW 2000, 3124) im Grundsatz ebenfalls vom Vorrang des Unionsrechts aus.

 

Rdn 1461

Das Primärrecht besteht in seiner kodifizierten Form aus EUV und AEUV, den dazugehörigen Protokollen sowie der Charta der Grundrechte (Charta; http://www.europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf). Die sekundärrechtlichen Rechtsakte sind in Art. 288 AEUV aufgeführt:

Verordnungen (§ 288 Abs. 2 AEUV),
Richtlinien (§ 288 Abs. 3 AEUV),
Beschlüsse (§ 288 Abs. 4 AEUV).
 

Rdn 1462

b) Sowohl Primär- als auch Sekundärrecht sind für den jeweiligen Normadressaten verbindlich. Die Verordnung hat allgemeine Geltung und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Von ihr unterscheidet sich die Richtlinie dadurch, dass sie lediglich eine Zielverbindlichkeit festlegt, dem Mitgliedstaat bei der Umsetzung aber die Wahl der Form und der Mittel überlässt. Ist die Frist zur Umsetzung einer Richtlinie noch nicht abgelaufen, stellt sich die Frage, inwieweit auf die Richtlinie zurückgegriffen werden darf. Anerkannt ist dabei, dass innerhalb der Umsetzungsfrist die Gerichte zur Heranziehung einer Richtlinie berechtigt, jedoch hierzu nicht verpflichtet sind.

 

Rdn 1463

4. Das Recht der Union auszulegen, ist ausschließlich dem EuGH vorbehalten (Art. 267 AEUV), da nur so unionsweit verbindlich eine einheitliche Auslegung gesichert und das Unionsrecht richterrechtlich fortgebildet werden kann. Die Auslegungskompetenz umfasst sämtliche...

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