Nach der ursprünglichen Fassung des § 1 des Brexit-ÜG vom 27.03.2019 (BGBl I 2019, 402) "gilt im Bundesrecht […] das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland als Mitgliedstaat der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft" "während des Übergangszeitraums gem. dem Vierten Teil des Abkommens über den Austritt des VK aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. EU C 66 I vom 19.02.2019, S. 1)". Soweit diese Fiktion Anwendung fand, galt sie für das gesamte Bundesrecht, mithin auch für das bundesgesetzlich geregelte Ertragsteuerrecht.

Auf Basis dieser Prämisse nimmt das Brexit-ÜG in § 2 lediglich die in Art. 127 Abs. 1, 4, 5 und 7 des Austrittsabkommens genannten Sachverhalte von dieser Fiktion des vorübergehenden Fortbestehens der EU-Mitgliedschaft des VK aus. Diese betreffen bestimmte Bereiche des sog. Schengen Acquis sowie der Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten, zu denen das VK im Grundsatz bereits in der Vergangenheit (d. h. während der EU-Mitgliedschaft) jeweils Vorbehalte geltend gemacht hatte. Darüber hinaus enthält die zitierte "Generalklausel" des § 1 indes weitere, wesentliche Einschränkungen:

Mit Inkrafttreten des Austrittsabkommens ist gem. § 4 Abs. 1 Brexit-ÜG auch das Brexit-ÜG in Kraft getreten (vgl. Bekanntmachung gem. § 4 Abs. 2 Brexit-ÜG vom 25.02.2020, BGBl I, 316). Allerdings war sein Anwendungsbereich auf die Zeit "während des Übergangszeitraums" begrenzt, d. h. mangels vor dem 01.07.2020 vom Gemeinsamen Ausschuss gem. Art. 132 Austrittsabkommen gefassten Verlängerungsbeschluss bis zum 31.12.2020.

§ 1 Brexit-ÜG bezog sich nach seinem ursprünglichen Wortlaut lediglich auf das im November 2018 durch die Regierung May mit der EU-Verhandlungsdelegation ausgehandelte Abkommen (ABl. EU, C 66 I/1), das im Januar 2019 und dann erneut im März 2019 vom britischen Unterhaus mehrheitlich abgelehnt wurde und somit nicht in Kraft trat. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das deutsche Gesetz zu einem Zeitpunkt abschließend beraten und verkündet wurde, in dem bereits feststand, dass das dort genannte Austrittsabkommen im britischen Parlament keine Mehrheit gefunden hatte.

Im Rahmen des Gesetzes zur Einführung einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltungen (BGBl I 2019, 2875) wurde die Bezugnahme aktualisiert, sodass nunmehr auf das im Hinblick auf den Status von Nordirland davon abweichende "Johnson"-Abkommen, das die Regierung Johnson im Oktober 2019 ausgehandelt hat (ABl. EU 2019, C 384 I/1) und das im Januar durch das britische Parlament und anschließend durch das Europäische Parlament gebilligt wurde, abzustellen ist.

Als sachliche Einschränkung ist darauf hinzuweisen, dass lediglich das Fortbestehen der Mitgliedschaft des VK in der EU und in der Europäischen Atomgemeinschaft fingiert wurde, nicht jedoch ein Fortbestehen der Mitgliedschaft des VK im EWR. Da das Schutzniveau innerhalb der EU i. d. R. jedenfalls nicht hinter dem Schutzniveau im EWR zurückbleibt, sollte sich dies in der Praxis allerdings nicht negativ ausgewirkt haben. Insbesondere enthält das deutsche Steuerrecht zwar vereinzelt Bezugnahmen nur auf EU-Mitgliedstaaten und nicht auf EWR-Mitgliedstaaten. Der umgekehrte Fall, d. h. dass bestimmte Begünstigungen nur gegenüber EWR-, nicht aber gegenüber EU-Staaten gewährt werden, kommt soweit ersichtlich nicht vor.

Daher kann die Frage, ob in die ausdrückliche Fiktion der fortbestehenden EU-Mitgliedschaft nicht über Art. 2 Buchst. c EWRA (konsolidierte Fassung in ABl. EU vom 22.06.2017, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:01994A0103(01)-20170622&from=DE), nach dem sämtliche EU-Mitgliedstaaten gleichzeitig EWR-Mitgliedstaaten sind, die gleichzeitige Fiktion des Fortbestehens der EWR-Mitgliedschaft Großbritanniens während des genannten Übergangszeitraums hineininterpretiert werden musste, dahinstehen.

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