Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsprüfung. Beitragsnachforderung. Rechtsfolgen der Freigabe des Schuldnervermögens aus einer selbstständigen Tätigkeit. Insolvenzverwalter. Arbeitgeber im beitragsrechtlichen Sinne

 

Leitsatz (amtlich)

Nach Zugang einer Freigabeerklärung gemäß § 35 Abs 2 InsO an den Schuldner, ist der Insolvenzverwalter in Bezug auf den freigegebenen Betrieb nicht mehr Arbeitgeber im beitragsrechtlichen Sinne.

 

Orientierungssatz

Zitierungen zum Leitsatz: Anschluss an BGH vom 9.2.2012 - IX ZR 75/11 = BGHZ 192, 322 und an BAG vom 21.11.2013 - 6 AZR 979/11 = BAGE 146, 295

 

Tenor

I. Unter Aufhebung des Bescheids vom 13.08.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.03.2014 wird die Beklagte verurteilt, den Bescheid vom 20.08.2012 zurückzunehmen.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Tatbestand

Streitig ist eine Nachforderung in Höhe von 2504,38 €.

Der Beigeladene zu 1. führte mit Beginn vom 01.07.1997 als Einzelkaufmann ein Unternehmen im Bereich der Durchführung von Isolierungsarbeiten (Wärme-, Kälte- und Schallschutz). Hierzu beschäftigte er u.a. die Arbeitnehmer D., E., F. und G. (Beigeladene zu 2. bis 4. sowie zu 8.).

Mit Beschluss des Amtsgerichts Mühldorf am Inn vom 02.10.2009 wurde die vorläufige Verwaltung über das Schuldnervermögen angeordnet. Der Kläger wurde zum vorläufigen (schwachen) Insolvenzverwalter bestellt. Während der Dauer der angeordneten vorläufigen Verwaltung kündigte der Beigeladene zu 1. (nunmehr: Schuldner) die Arbeitsverhältnisse der o.g. Arbeitnehmer - mit Zustimmung des Klägers - ordentlich fristgemäß (jeweils am 23.11.2009 zum 31.12.2009). Die Arbeitnehmer wurden mit Wirkung ab dem 01.12.2009 von der Arbeit freigestellt. Nur der Arbeitnehmer E. (Beigeladener zu 3.) nahm zum 14.12.2009 wieder eine neue Beschäftigung auf.

Mit Beschluss vom 01.12.2009 über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners wurde der Kläger als Insolvenzverwalter über das Vermögen des Schuldners bestellt.

Der Kläger erklärte ebenfalls am 01.12.2009 die Freigabe der Vermögensgegenstände aus der selbständigen Tätigkeit des Schuldners. Dies umfasse sämtliche Betriebsmittel, gewerbliches Vermögen und Inventar, soweit die Gegenstände nicht Aus- bzw. Absonderungsberechtigten zuzuordnen gewesen seien. Die Freigabeerklärung ging am gleichen Tag dem Schuldner zu. Sie wurde am 04.12.2009 durch das Insolvenzgericht öffentlich bekannt gemacht. Ein Teil der Belegschaft wurde vom Schuldner nach Freigabe des Gewerbebetriebs aus der Insolvenzmasse weiter beschäftigt.

Der Kläger zeigte zudem gegenüber dem Amtsgericht Mühldorf am Inn am 29.01.2015 die Masseunzulänglichkeit an, da die Masse voraussichtlich nicht ausreichen werde, um die fälligen sonstigen Masseverbindlichkeiten zu erfüllen.

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 20.08.2012 wurde für den Prüfzeitraum vom 01.12.2009 bis zum 31.12.2009 gegenüber dem Kläger eine Nachforderung in Höhe von 2.504,38 € festgestellt.

Die Beklagte führte aus, dass nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung auch für geschuldetes und bei Fälligkeit noch nicht gezahltes, laufendes Arbeitsentgelt zu entrichten sei. Das Bundessozialgericht habe durch Urteile vom 26.11.1985 entschieden, dass der Fortbestand eines Beschäftigungsverhältnisses grundsätzlich nicht durch die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers berührt werde. Die Versicherungspflicht bestehe demnach auch nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens bis zur rechtlichen Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses fort. Für die vom Insolvenzverwalter weiter beschäftigten Arbeitnehmer gelte der Insolvenzverwalter als Arbeitgeber und habe die Arbeitgeberpflichten zu erfüllen.

Folglich habe für die Arbeitnehmer D., G. und F. (Beigeladene zu 2., 8. und 4.) für den Zeitraum vom 01.12.2009 bis zum 31.12.2009 und für den Arbeitnehmer E. (Beigeladener zu 3.) für den Zeitraum vom 01.12.2009 bis zum 13.12.2009 Versicherungs- und Beitragspflicht in der Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung bestanden.

Der Kläger habe diese Beiträge nicht abgeführt. Für die Nachforderung sei das bis zum 30.11.2009 regelmäßig gezahlte Arbeitsentgelt ohne Überstundenzuschläge aus November 2009 zugrundegelegt worden.

Mit Schreiben vom 02.04.2013 bestellte sich Rechtsanwältin H. für die Rechtsanwaltskanzlei B. (nunmehr: hww) als Bevollmächtigte des Klägers. hww beantragte, den Betriebsprüfungsbescheid vom 20.08.2012 aufzuheben und die Vollziehung des Bescheids auszusetzen. 7

Bei Durchführung der Betriebsprüfung sei die Freigabe des schuldnerischen Gewerbebetriebs unberücksichtigt geblieben, so dass der Insolvenzverwalter zu Unrecht als Arbeitgeber und Inhaltsadressat des streitbefangenen Bescheids herangezogen worden sei. Dem Schuldner sei noch am Tag des Beschlusses über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens der vollständige Gewerbebetrieb freigegeben und übergeben worden. Der Kläger sei wegen der Freigabe nicht mehr als Arb...

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