Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Widerspruchsverfahren im Asylbewerberleistungsrecht. Kostenfreiheit. keine Erhebung einer Aktenversendungspauschale. Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

§ 64 Abs 1 SGB 10 gilt über seinen Wortlaut hinaus für alle Normen des materiellen Sozialrechts, hinsichtlich derer der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet ist. Dies gilt auch dann, wenn die jeweilige Norm (hier AsylbLG) nicht zum Sozialgesetzbuch gehört bzw diesem nicht gleichgestellt ist.

 

Orientierungssatz

Die Erhebung einer Aktenversendungspauschale nach den Vorschriften des Landesverwaltungsverfahrens- bzw Landesgebührenrecht für ein Widerspruchsverfahren nach dem AsylbLG scheidet aus.

 

Tenor

1. Der Bescheid vom 10.5.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.11.2010 wegen der Festsetzung einer Aktenversendungspauschale in Höhe von 10,00 € wird aufgehoben.

2. Das beklagte Land erstattet dem Kläger seiner außergerichtliche Kosten.

3. Die Berufung wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Angelegenheit zugelassen.

 

Tatbestand

Im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) streiten die Beteiligten um die Erhebung einer Aktenversendungspauschale in Höhe von 10,00 €.

Mit Schreiben vom 28.4.2010 beantragte der anwaltlich vertretene Kläger, der Leistungen nach dem AsylbLG erhält, im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens Akteneinsicht. Daraufhin teilte das beklagte Land dem Kläger mit, er habe Gelegenheit, die Akte auf der Dienststelle des Beklagten einzusehen und einen Termin zu vereinbaren. Da der Kläger hiermit nicht einverstanden war, wurde ihm die entsprechende Akte am 10.5.2010 auf die Kanzlei seines Rechtsanwaltes übersandt. Zugleich forderte das beklagte Land den Kläger auf, hierfür eine Verwaltungsgebühr in Höhe von 10,00 € zu überweisen.

Gegen diese Gebührenforderung erhob der Kläger am 12.5.2010 Widerspruch. In sozialrechtlichen Verfahren könne eine Gebühr für die Aktenversendung nicht erhoben werden. Hierfür bestehe keine Rechtsgrundlage.

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens verwies das beklagte Land mit Schreiben vom 26.5.2010 auf die Verwaltungsgebührensatzung des Rhein-Neckar-Kreises. Hiernach bestehe für die Aktenübersendung ein Gebührenrahmen von 1,50 € bis 100,00 €.

Der Widerspruch ist jedoch erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 15.11.2010). Die Leistungen für Asylbewerber würden durch die untere Verwaltungsbehörde wahrgenommen. Die im Rahmen des Widerspruchsverfahrens erteilte Auskunft, die Erhebung der Aktenversendungsgebühr beruhe auf der Verwaltungsgebührensatzung des Rhein-Neckar-Kreises sei fehlerhaft. Richtigerweise ergebe sich der Anspruch aus dem Landesgebührengesetz (LGebG). Eine andere Rechtsfolge ergebe sich hieraus jedoch nicht. § 183 Sozialgerichtsgesetz (SGG) greife nicht ein, denn vorliegend habe es sich um ein Widerspruchsverfahren und nicht um ein Gerichtsverfahren gehandelt. Im übrigen werde die Verwaltungsbehörde auch in Angelegenheiten, in denen der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet sei, ermächtigt, im Rahmen der Akteneinsicht den Ersatz ihrer Aufwendungen in angemessener Höhe zu verlangen (§ 25 Sozialgesetzbuch X - SGB X). Die zugrunde liegende Hauptsacheentscheidung beruhe auf §§ 4 und 6 AsylbLG. Im Rahmen des AsylbLG seien jedoch nur einige Vorschriften des SGB X (insbesondere §§ 44 - 50, §§ 102 - 114) bzw. des Sozialgesetzbuch XII - SGB XII (insbesondere § 118 und 120 Abs. 1) anwendbar. Diese Vorschriften bezögen sich jedoch nicht auf eine Kostenbefreiung im Widerspruchsverfahren.

Am 13.12.2010 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht erhoben und wendet sich gegen die Festsetzung der Aktenversendungskosten. Aus § 120 SGG ergebe sich zwingend, dass auch für das sozialrechtliche bzw. sozialgerichtliche Vorverfahren Auslagen für die Übersendung der Verwaltungsakte nicht erhoben werden könnten. Etwas anderes könne nur dann gelten, wenn das betreffende sozialgerichtliche Klageverfahren ausnahmsweise gerichtskostenpflichtig sei (§§ 197a i.V.m. 120 Abs. 2 Satz 6 SGG). Wenn das beklagte Land auf die Anwendbarkeit des Landesverwaltungsverfahrensgesetzes (LVwVfG) verweise, müsse berücksichtigt werden, dass die Norm zur Akteneinsicht (§ 29 LVwVfG) mit einem “entsprechend erweitertem Inhalt zu lesen„ sei, denn im Gerichtsprozess bestehe ohnehin das Recht zur Akteneinsicht. Daher müsse die Erhebung der Verwaltungsgebühren für das Widerspruchsverfahren “im Lichte der Regelungen des SGG„ betrachtet werden. Das Recht auf Akteneinsicht sei ein “grundlegendes Verfahrensrecht der Beteiligten, das ihnen die Möglichkeit„ gebe, “den Anspruch auf rechtliches Gehör zu verwirklichen„ und beruhe auf “dem Gebot effizienten Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG)„. Dieses Recht würde durch die Erhebung einer unvermeidbaren Akteneinsichtsgebühr “konterkariert„. Denn vor einer Akteneinsicht könne der Betroffene die Aussichten einer Rechtsverfolgung häufig nicht abschätzen. Im übrigen habe der Gesetzgeber mit §...

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