Entscheidungsstichwort (Thema)

Witwenrente. Tod des Versicherten vor Vollendung des 60. Lebensjahres. Rentenabschlag

 

Orientierungssatz

1. Ist bei Hinterbliebenenrenten der Versicherte vor Vollendung des 60. Lebensjahres verstorben, ist gemäß § 77 Abs 2 S 2 SGB 6 die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend. Die Kammer kann dem Wortlaut und der Systematik des § 77 SGB 6 nicht entnehmen, dass Renten unter dem 60. Lebensjahr keiner Minderung des Zugangsfaktors unterworfen werden sollen (Entgegen BSG vom 16.5.2006 - B 4 RA 22/05 R = SozR 4-2600 § 77 Nr 3, Anschluss an SG Aachen vom 9.2.2007 - S 8 R 96/06 und vom 20.3.2007 - S 13 R 76/06).

2. Das vom Gesetzgeber gewollte Gleichgewicht - Reduzierung der Renten durch Minderung des Zugangsfaktors einerseits und die Abfederung durch die Aufstockung der Zurechnungszeiten andererseits - untermauert die vertretene Interpretation des § 77 Abs 2 SGB 6.

3. Angesichts der klaren Zwecksetzung des Zugangsfaktors nach § 63 Abs 5 SGB 6, der ausdrücklich festlegt, dass der Zugangsfaktor dazu dient, Vorteile und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer zu vermeiden, erscheint es nur schwer vertretbar, dass gerade in Fällen vor dem 60. Lebensjahr einsetzender Renten, die typischerweise überdurchschnittlich lang bezogen werden, kein Ausgleich der langen Rentenbezugsdauer entsprechend dem § 77 Abs 2 SGB 6 in Form eines verminderten Zugangsfaktors gewollt sein soll.

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt eine Witwenrente auf der rechnerischen Grundlage eines Zugangsfaktors von 1,0.

Der ... 1952 geborene Ehemann der Klägerin verstarb ... 2004.

Mit Bescheid vom 28.04.2004 gewährte die Beklagte der Klägerin die von ihr beantragte Witwenrente. Die Beklagte erkannte im Rahmen dieses Bescheides im Versicherungsverlauf des Verstorbenen 100 Monate Zurechnungszeit vom 14.03.2004 bis zum 16.07.2012 an. Sie verminderte den Zugangsfaktor von 1,0 für jeden Kalendermonat nach dem 16.07.2012 - der fiktiven Vollendung des 60. Lebensjahres des Verstorbenen - bis zum Ablauf des Kalendermonats der fiktiven Vollendung des 63. Lebensjahres des Verstorbenen um 0,003. Die Beklagte errechnete damit für 36 Kalendermonate eine Verringerung von insgesamt 0,108, so dass sie die sich aus dem Versicherungsverlauf ergebenen Entgeltpunkte von 51,4361 mit einem Zugangsfaktor von 0,892 multiplizierte und der Rentenberechnung 45,8810 persönliche Entgeltpunkte zugrunde legte.

Mit Schreiben vom 27.06.2006 beantragte die Klägerin die Überprüfung und Rücknahme des Bescheides vom 28.04.2004 mit Verweis auf das Urteil des 4. Senates des BSG vom 16.05.2006 (Az.: B 4 RA 22/05 R).

Mit Bescheid vom 14.07.2006 lehnte die Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 28.04.2004 ab. Die Überprüfung des Bescheides habe ergeben, dass weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden sei. Das Urteil des BSG vom 16.05.2006 betreffe Renten wegen Erwerbsminderung, keine Hinterbliebenenrenten.

Die Klägerin legte mit Schreiben vom 21.07.2006 Widerspruch ein und bat um das Ruhen des Verfahrens.

Mit Widerspruchsbescheid vom 07.09.2006 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung verwies sie nochmals darauf, dass das von der Klägerin zitierte BSG-Urteil über Abschläge bei Hinterbliebenenrenten nicht entschieden habe.

Da nach geltender Rechtslage eine Entscheidung über den Überprüfungsantrag der Klägerin hätte getroffen werden können, sei ein Ruhen des Verfahrens nicht angezeigt gewesen.

Die Klägerin hat am 22.09.2006 Klage erhoben.

Sie vertritt die Ansicht, dass das am 16.05.2006 ergangene Urteil des BSG auch Hinterbliebenenrenten betreffe, zumal der Verstorbene selbst unter 60 Jahre alt gewesen sei.

Sinngemäß beantragt die Klägerin schriftsätzlich,

unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 28.04.2004 und des Bescheides vom 14.07.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.09.2006 die Beklagte zu verurteilen, ihr Witwenrente auf der rechnerischen Grundlage eines Zugangfaktors von 1,0 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf den Wortlaut der zum 01.01.2001 in Kraft getretenen Neufassung des § 77 Abs. 2 SGB VI. Sie ist nicht bereit, der Entscheidung des BSG über den Einzelfall hinaus zu folgen. Der 4. Senat des BSG habe ignoriert, dass nach den umfangreichen Gesetzesbegründungen auch Abschläge auf Renten intendiert gewesen seien, die im Zusammenhang mit Personen stehen, die das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Insbesondere habe der 4. Senat des BSG nicht hinreichend gewürdigt, dass gerade bei unter 60-jährigen die Rentenabschläge dadurch weitestgehend kompensiert hätten werden sollen, dass die anrechenbaren Zurechnungszeiten um maximal 40 Kalendermonate angehoben wurden.

Die Hinterbliebenenrente unterfalle zudem nicht Satz 3 des § 77 Abs. 2 SGB VI, den der 4. Senat des BSG i...

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