Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung. unversorgtes Ausscheiden eines Mitglieds einer Glaubensgemeinschaft. Einrede der Verjährung. unzulässige Rechtsausübung wegen Rechtsmissbrauchs

 

Orientierungssatz

1. Maßgeblich für die Beurteilung, ob ein unversorgtes Ausscheiden iS des § 8 Abs 2 S 1 SGB 6 vorliegt, ist allein die tatsächliche Beendigung der nicht versicherungspflichtigen oder versicherungsfreien Tätigkeit. Ob eine lebenslange Versorgung gewährt wird, beurteilt sich nach dem Zeitpunkt des Ausscheidens, nicht nach später gemachten (Rückkehr-)Angeboten (vgl LSG Stuttgart vom 21.6.2016 - L 11 R 2289/15).

2. Der Arbeitgeber als Nachversicherungsschuldner, dessen objektiv pflichtwidriges Unterlassen ursächlich dafür ist, dass der Rentenversicherungsträger als Nachversicherungsgläubiger keine Kenntnis von seinem Anspruch hat, handelt grundsätzlich rechtsmissbräuchlich, wenn er sich dennoch auf Verjährung beruft (vgl BSG vom 27.6.2012 - B 5 R 88/11 R = BSGE 111, 107 = SozR 4-2600 § 233 Nr 2).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 22.03.2021; Aktenzeichen B 13 R 20/19 R)

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Der Streitwert wird auf 85.241,07 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Forderung von Nachversicherungsbeiträgen innerhalb eines Zeitraums vom 01.02.1972 bis 30.11.2006 für die bei der Beklagten versicherte Beigeladene.

Die Klägerin ist eine evangelische Freikirche pfingstlicher Prägung. Ihr Hauptziel ist nach eigenen Angaben die Mitarbeit am Aufbau der weltweiten Gemeinde Jesu-Christi auf Erden. Sie ist als eingetragener Verein mit Sitz in S. organisiert (Vereinsregister S. X.). Die Verwaltung des Vereins befindet sich in X.. Der Verein unterhält mehrere sogenannte Glaubenshäuser, die unter anderem der Förderung der christlichen Religion dienen, aber auch Erholungsgelegenheit bieten. Mit dem Glaubenshaus verbunden ist eine Missionsschule, die nach den früheren Satzungen des Vereins (z. B. Satzung in der Fassung vom 30.07.1970) den Orden der geistlichen Genossenschaft „X.“ darstellte. Nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 der Satzung in der Fassung vom 28.05.2012 bilden Personen, die ihrer christlichen Überzeugung und inneren Berufung folgen und in einem Glaubenshaus leben, eine auf Dauer angelegte ordensähnliche Glaubens- und Lebensgemeinschaft. Die Beigeladene war zu keinem Zeitpunkt Mitglied des eingetragenen Vereins.

Die am X. geborene Beigeladene wurde am 01.02.1972 in das Glaubenshaus L. in X. aufgenommen und absolvierte dort eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin. In der Folge war die Beigeladene bis 30.11.2006 überwiegend in verschiedenen Glaubenshäusern der Klägerin in Deutschland tätig gewesen, aber auch im Ausland zum Einsatz gekommen (vom 02.10.1972 bis 03.02.1973 und vom 01.10.1973 bis 21.04.1974 in der X., vom 30.09.1974 bis 30.04.1975 in den X. und vom 01.05.1975 bis 01.04.1976 in der X.). Ab 01.12.2006 bis 13.03.2013 war die Beigeladene in einem Missionshaus der Klägerin in der X. tätig.

Die Beigeladene beantragte bei der Beklagten am 26.02.2014 eine Kontenklärung. Dabei gab sie an, sie habe vom 01.02.1972 bis 13.03.2013 für die Klägerin als Hauswirtschafterin und Heimleiterin gearbeitet. Ihr Prozessbevollmächtigter machte mit Schreiben vom 20.03.2014 eine Nachversicherung nach § 8 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI geltend, da die Klägerin für den gesamten Zeitraum vom 01.02.1972 bis 13.03.2013 keine Versicherungsbeiträge entrichtet habe.

Mit Bescheid vom 12.11.2014 forderte die Beklagte die Klägerin nach entsprechender Anhörung auf, Nachversicherungsbeiträge für die Beigeladene für die Zeit vom 01.02.1972 bis 30.11.2006 gem. § 233 Abs. 2 SGB VI i. V. m. § 8 Abs. 2 SGB VI in Höhe von 84.716,26 Euro zu überweisen.

Dagegen legte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 10.12.2014 Widerspruch ein, zu dessen Begründung sie vortrug, die Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 SGB VI lägen im Fall der Beigeladenen nicht vor. Es habe zu keinem Zeitpunkt ein Beschäftigungsverhältnis zwischen der Beigeladenen und der Klägerin bestanden. Die Beigeladene habe in der Zeit vom 01.02.1972 bis 30.11.2006 in verschiedenen Missionshäusern der Klägerin gelebt und dort selbstverständlich und freiwillig den Haushalt der Glaubensgemeinschaft in Ordnung gehalten. Die Beigeladene habe für ihre Tätigkeiten in der Glaubensgemeinschaft keinerlei Entgelt erhalten und dies auch nicht erwartet. Im Übrigen seien selbst bei Annahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung die Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 SGB VI nicht erfüllt. Vor dem 01.01.1992 habe keine Versicherungsfreiheit nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI bestanden. Bis zum 31.12.1991 sei eine Versicherungsfreiheit nur auf Antrag der Gemeinschaft gewährt worden. Ein solcher Antrag nach den §§ 1231 Abs. 3 RVO und 8 Abs. 3 AVG sei von der Klägerin aber nie gestellt worden. Eine Gewährleistungsentscheidung liege für den Fall von dem Grund...

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