Entscheidungsstichwort (Thema)

Ersatzzeit. nationalsozialistische Verfolgung. Jude. Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen. Polen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die in den ersten Monaten der Besetzung Polens durch die Deutschen erfolgte Heranziehung von Juden zur Zwangsarbeit - hier in den Monaten September bis November 1939 in Radom/Generalgouvernement - erfolgte in der Regel unter kontinuierlicher Aufsicht und konnte von den Betroffenen nicht ohne Gefahr für Leib und Leben verweigert werden. Es handelt sich um Maßnahmen der Freiheitsentziehung, die als Verfolgungsersatzzeiten anzuerkennen sind.

2. Wenn neben der jüdischen Bevölkerung auch die nichtjüdische polnische Bevölkerung von Zwangsarbeit betroffen war, ändert dies am Charakter der Zwangsarbeit als gegen die Juden gerichtete Verfolgungsmaßnahme nichts.

 

Orientierungssatz

Die ab September bis November 1939 im sog Generalgouvernement erfolgte Heranziehung von Juden zur Zwangsarbeit erfolgte in der Regel unter haftähnlichen Bedingungen. Auch wenn nicht täglich Zwangsarbeit verrichtet werden musste, ist der entsprechende Monat als Verfolgungsersatzzeit gem § 250 Abs 1 Nr 4 SGB 6 anzuerkennen.

 

Tenor

1. Der Bescheid der Beklagten vom 24.06.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.09.2003 wird geändert.

2. Die Beklagte wird verurteilt, die dem Kläger gewährte Regelaltersrente unter Berücksichtigung verfolgungsbedingter Ersatzzeiten im September, Oktober und November 1939 neu zu berechnen.

3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Berücksichtigung verfolgungsbedingter Ersatzzeiten von September bis November 1939 in R.

Der Kläger wurde 1924 in R. / Polen geboren. Als polnischer Jude wurde er Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Er ist als Verfolgter des Nationalsozialismus im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes anerkannt. Der Kläger lebt seit 1948 in den USA. Er hat die dortige Staatsangehörigkeit.

Im Verfahren zur Durchführung des Bundesentschädigungsgesetzes beim Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg - Wiedergutmachungsstelle (Az. xxx) hat der Kläger im Antragsformular zur Anmeldung von 'Schaden an Freiheit’ in der Spalte “ Haftanst. gleichzus. Lager, ähnl. Institutionen und Zwangsarbeit" lediglich angegeben: “Cieszanow von April 1940 bis Februar 1941". Zwangsarbeiten in R. wurden in dem Antrag nicht erwähnt.

In einem nervenärztlichen Gutachten des H. W., M.D., aus dem Jahr 1968 heißt es über den Kläger, er “war fast 15 Jahre alt, als er nach 7 Klassen die Volksschule beendete. (..) Er hatte gehofft, sich als Zahnarzt auszubilden, fing während des Sommers 1939 an, als Zahntechniker für einen Zahnarzt zu arbeiten. Beim Anfang der deutschen Besetzung Polens im September 1939 wurde er hin und wieder auf der Straße zur Zwangsarbeit gefordert, musste Reinigungsarbeit verrichten, musste Baracken sauber machen, musste Schuhe putzen, musste auch Feldarbeit verrichten. Ende 1939 wurde er gezwungen, den Judenstern zu tragen, wurde häufiger zur Zwangsarbeit gefordert, wurde hin und wieder auch misshandelt, musste schon Hunger erdulden."

In einem weiteren ärztlichen Gutachten aus dem Jahr 1968 sind die Angaben des Klägers wie folgt wiedergegeben: “Kurz vor der deutschen Besetzung hatte er begonnen, bei einem Zahnarzt zu arbeiten. Bereits im September 39 wurde er gelegentlich zu einfachen Straßensäuberungsarbeiten geholt. Später kamen andere Arbeiten hinzu."

Am 15.11.2002 beantragte der Kläger über seinen damaligen Bevollmächtigten Altersrente unter Anerkennung von im Ghetto R. zurückgelegten Beitragszeiten. Mit Bescheid vom 24.6.2003 gewährte die Beklagte dem Kläger Regelaltersrente unter Anwendung der Vorschriften des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Dabei wurden Verfolgungsersatzzeiten ab 1.12.1939 berücksichtigt.

Gegen den Bescheid erhob der damalige Bevollmächtigte des Klägers am 23.7.2003 Widerspruch. Er machte die Berücksichtigung der Monate September bis November 1939 als Ersatzzeiten geltend.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18.9.2003 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Gemäß § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI seien Ersatzzeiten bei Freiheitsentziehung im Sinne des § 43 BEG oder Freiheitseinschränkung im Sinne des § 47 BEG anzuerkennen. Nach § 47 Abs. 1 BEG liege eine Freiheitsbeschränkung u.a. dann vor, wenn der Verfolgte den Judenstern getragen habe oder unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Illegalität gelebt habe. Weitere Tatbestände der Freiheitseinschränkung seien vom Gesetzgeber ausdrücklich nicht aufgenommen worden.

Die Voraussetzung des "Sterntragens" habe in den eingegliederten Ostgebieten frühestens ab Oktober/November 1939 vorgelegen. Konkret sei in R. / Generalgouvernement das Tragen von Kennzeichen für Juden durch Verordnung vom 23.11.1939 mit Wirkung vom 1.12.1939 angeordnet worden. Ersatzzeiten für September bis November 1939 könnten daher nicht anerkannt werden.

Mit der am 14.10.2003 erhoben...

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