8.1 Ermessen

8.1.1 Handlungsermessen

 

Rz. 28

Während der Steueranspruch geltend gemacht werden muss und nur in Ausnahmefällen[1] die Steuerfestsetzung[2] unterbleiben kann, steht die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners von vornherein im pflichtgemäßen Ermessen der Verwaltung. Die Finanzbehörde hat sich grundsätzlich in erster Linie an den Schuldner zu halten. Insoweit kann von einer Subsidiarität der Haftung gesprochen werden (vgl. auch Rz. 29). Eine Rechtspflicht zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners besteht nicht .[3] Ob und ggf. wie weit die Finanzbehörde den Haftenden in Anspruch nehmen will, steht in ihrem Ermessen (Handlungsermessen = Entschließungsermessen). Dieses kann sich auf das Auswahlermessen (vgl. Rz. 29) reduzieren.[4] Im Übrigen enthält § 219 S. 1 AO eine auf die Erhebung beschränkte Regelung der Subsidiarität für die Haftungsinanspruchnahme, die auch bereits das Handlungsermessen beeinflussen kann. Diese beschränkte Subsidiarität wird allerdings durch § 219 S. 2 AO für wichtige Haftungsbereiche (z. B. Abzugssteuern wie die LSt) gänzlich aufgehoben.

[1] Z. B. wegen der Kleinbetragsregelung nach § 156 AO
[3] Opportunitätsprinzip; vgl. hierzu im Einzelnen Gehm, in Schwarz/Pahlke, AO/FGO, § 191 AO Rz. 42ff.
[4] Mösbauer, DB 1983, 1895.

8.1.2 Auswahlermessen zwischen Schuldner und Haftungsschuldner

 

Rz. 29

Besteht die Möglichkeit, den Schuldner des zugrunde liegenden Anspruchs heranzuziehen, so hat die Finanzbehörde neben dem Handlungsermessen auch noch das Auswahlermessen zwischen Schuldner und Haftungsschuldner auszuüben. Hier ist zu beachten, dass grundsätzlich die Haftung subsidiär ist[1] , zunächst also der eigentliche Schuldner in Anspruch zu nehmen ist. Das gilt grundsätzlich, obwohl der Gesetzgeber die Vorrangpflicht für die eigentliche Schuld in § 219 AO (mit Durchbrechungen für wichtige Bereiche) ausdrücklich nur gegenüber der Inanspruchnahme auf Zahlung, nicht dagegen gegenüber der bloßen Haftungsinanspruchnahme ohne Zahlungsaufforderung angeordnet hat. Der Vorrang ergibt sich vielmehr schon aus dem begrifflichen Inhalt der Haftung.

Bei der Entscheidung über das Auswahlermessen zwischen Schuld und Haftungsschuld kann der Vorrang der Schuld zurücktreten, wenn die Haftung auf grobe Pflichtverletzungen zurückzuführen ist. So ist die Haftungsinanspruchnahme auf Grund einer Steuerhinterziehung grundsätzlich nicht ermessensfehlerhaft.[2] Das betrifft sowohl die Inanspruchnahme dem Grunde als auch der Höhe nach.[3] Dagegen ergibt eine grob fahrlässige Pflichtverletzung einer der unter§§ 34, 35 AO fallenden Personen keine Vorprägung für die Haftung nach § 69 AO, sondern lässt die Vorrangstellung des Schuldners selbst für die Inanspruchnahme bestehen.[4] Im Übrigen hat der Steuerschuldner keinen Anspruch auf Ausübung des Auswahlermessens im Verhältnis zum Haftungsschuldner. Auch wenn die Finanzbehörde den Haftungsschuldner wegen dessen deliktischen Verhaltens sofort in Anspruch nehmen könnte, ist die Inanspruchnahme des Steuerschuldners nicht ermessensabhängig.[5]

Der Grundsatz der Subsidiarität gilt auch sonst nicht uneingeschränkt. Das gilt vor allem für die Abzugsteuern. So ist z. B. in den Fällen des Steuerabzugs vom Arbeitslohn[6], vom Kapitalertrag[7] und in den Fällen des früheren § 51 UStDV[8] zunächst der Haftungsschuldner, hingegen der Steuerschuldner nur in Ausnahmefällen in Anspruch zu nehmen.[9]

8.1.3 Auswahlermessen zwischen mehreren Haftungsschuldnern

 

Rz. 30

Bei mehreren Haftungsschuldnern hat die Finanzbehörde ebenfalls ihr Auswahlermessen auszuüben, an wen sie sich halten will. Hier kann die Grundlage der Haftung unterschiedlich sein und das vorrangige Inanspruchnehmen eines Haftungsschuldners fordern. So ist der Steuerhinterzieher im Fall eines Unternehmensübergangs vor dem Übernehmer in Anspruch zu nehmen. Aber auch die Haftung der Geschäftsführer der übertragenden GmbH nach § 69 AO geht grundsätzlich der Haftung des Übernehmers nach § 75 AO vor.[1] U. U. muss auch die unterschiedliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Haftungsschuldner berücksichtigt werden. Dabei ist das FA jedoch nicht verpflichtet, bereits beim Erlass des Haftungsbescheids die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Haftungsschuldner zu überprüfen.[2] Zwischen zwei GmbH-Geschäftsführern kann das Auswahlermessen nicht allein danach zuungunsten eines von ihnen getroffen werden, weil er Alleinvertretungsbefugnis hatte, der andere jedoch die GmbH nur g...

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