rechtskräftig: ja

 

Entscheidungsstichwort (Thema)

Anhörung; Gerichtsbescheid; Rechtliches Gehör; Überraschungsentscheidung; Verfahrensbeschleunigung; Zurückverweisung

 

Leitsatz (amtlich)

Es stellt eine Überraschungsentscheidung dar und verstößt gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs, wenn das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid entscheidet, ohne die Beteiligten zuvor erneut hierzu angehört zu haben, wenn sich diese im Rahmen der – ersten – Anhörung ausführlich mit neuem Sachvortrag zur Sach- und Rechtslage geäußert haben. In einem solchen Fall hat das Sozialgericht zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid weiterhin vorliegen und bejahendenfalls dieses den Beteiligten – im Rahmen der zweiten Anhörung – mitzuteilen. Da ein unter Mißachtung dieser Grundsätze erlassener Gerichtsbescheid verfahrensfehlerhaft zustande gekommen ist, kann das Landessozialgericht ihn aufheben und den Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückverweisen.

Der mit Einführung des Gerichtsbescheides verfolgte Zweck einer Verfahrensbescheinigung wird verfehlt, wenn das Sozialgericht einen solchen erst 22 Monate nach der Anhörung der Beteiligten und 16 Monate nach Eingang des letzten, aufgrund dieser Anhörung eingereichten Schriftsatzes erläßt.

 

Normenkette

SGG §§ 62, 105 Abs. 1, § 159 Abs. 1

 

Verfahrensgang

SG Kiel (Entscheidung vom 19.01.2000; Aktenzeichen S 3 RA 144/97)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kiel vom 19. Januar 2000 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht Kiel zurückverwiesen.

Die weitere Berufung wird zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt einer erneuten Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf Entlassung aus der Pflichtversicherung für Selbständige hat. Im Berufungsverfahren ist dabei vorrangig von Bedeutung, ob der Gerichtsbescheid, mit dem das Sozialgericht Kiel die Klage abgewiesen hat, verfahrensrechtlich korrekt erlassen worden ist.

Gegen die ablehnenden Bescheide der Beklagten vom 15. Juli 1996 und 19. Dezember 1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 1997 hat der Kläger am 5. August 1997 Klage beim Sozialgericht Kiel erhoben. Mit am 31. März 1998 abgesandter gerichtlicher Verfügung wurde dem Kläger mitgeteilt, daß die Kammer beabsichtige, den Rechtsstreit durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Einer weiteren Stellungnahme des Klägers werde binnen eines Monats entgegengesehen. Mit Schriftsatz vom 9. April 1998 machte der Kläger geltend, daß seiner Auffassung nach die Voraussetzungen für den Erlaß eines Gerichtsbescheides nicht vorlägen und machte zur Sach- und Rechtslage längere Ausführungen. Mit Schriftsatz vom 26. Juli 1998 nahm die Beklagte zum Klagebegehren Stellung. Es folgten weitere Schriftsätze des Klägers vom 19. Juni 1998, 2. August 1998, 4. August 1998 und 14. September 1998, in denen er weitere Ausführungen zur Sach- und Rechtslage machte.

Ohne entsprechende erneute Ankündigung hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 19. Januar 2000 die Klage abgewiesen. Gegen diesen dem Kläger am 31. Januar 2000 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich dessen am 16. Februar 2000 beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingelegte Berufung. Neben weiteren Ausführungen zur Sache vertritt der Kläger weiterhin die Auffassung, daß nicht hätte durch Gerichtsbescheid entschieden werden dürfen.

Der Kläger beantragt ausweislich seines schriftsätzlichen Vorbringens,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kiel vom 19. Januar 2000 sowie die Bescheide der Beklagten vom 15. Juli 1996 und 19. Dezember 1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 1997 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn aus der bei der Beklagten bestehenden Antragspflichtversicherung für Selbständige zu entlassen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kiel für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der Beklagten. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung des Senats.

 

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig. Sie wurde insbesondere form- und fristgerecht eingelegt.

Sie ist im Sinne der Aufhebung des Gerichtsbescheides und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht begründet (§ 159 Abs. 1 Ziffer 2 SozialgerichtsgesetzSGG –), weil die Entscheidung des Sozialgerichts den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) verletzt und auch hierauf beruhen kann. Das Verfahren leidet deshalb an einem wesentlichen Mangel.

Nach § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG sind die Beteiligten vor Erlaß eines Gerichtsbescheides zu hören. Dies ist nicht im erforderlichen Maße geschehen. Zwar hat das Sozialgericht die – grundsätzlich schriftlich mögliche – Anhörung mit Geri...

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