Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Bildung und Teilhabe. Schülerbeförderungskosten. nächstgelegene Schule des gewählten Bildungsgangs. Primarstufe an Waldorfschule kein eigenständiger Bildungsgang. verfassungskonforme Auslegung

 

Orientierungssatz

Schülerbeförderungskosten für den Besuch der Primarstufe einer Freien Waldorfschule können gem § 28 Abs 4 SGB 2 nicht übernommen werden, wenn es sich bei der Waldorfschule nicht um die nächstgelegene Grundschule handelt. Die Besonderheiten der pädagogischen Ausrichtung der Primarstufen- bzw Grundschulausbildung an einer Waldorfschule vermag keinen eigenständigen Bildungsgang iS des § 28 Abs 4 SGB 2 zu begründen.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 05.07.2017; Aktenzeichen B 14 AS 29/16 R)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 22. August 2013 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Übernahme von Schülerbeförderungskosten zur W.schule in F. für den Zeitraum von Januar 2011 bis Dezember 2011.

Die 2002 geborene Klägerin wohnt in H. Sie besuchte im Schuljahr 2010/2011 die 3. Klasse und im Schuljahr 2011/2012 die 4. Klasse der W.schule in F. Sie stand im Jahr 2011 mit ihrer Mutter bei dem Beklagten im Leistungsbezug nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Am 10. Mai 2011 beantragte die Klägerin einen Zuschuss zur Übernahme von Schülerbeförderungskosten von H. nach F. rückwirkend zum 1. Januar 2011. Bei der W.schule in F. handele es sich um die nächstgelegene Schule des gewählten Bildungsganges. Die monatlichen Fahrtkosten betrugen 78,80 EUR.

Mit Bescheid vom 1. Juni 2011 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Die Klägerin befinde sich noch in der Orientierungs- bzw. Grundschulstufe; der Besuch einer der nächstgelegenen Schulen in H. sei kostengünstiger.

Hiergegen erhob die Klägerin am 30. Juni 2011 Widerspruch. Die W.schule in F. sei die nächstgelegene Schule des gewählten Bildungsganges, der sich hinsichtlich der pädagogischen und didaktischen Zielsetzung substanziell von den herkömmlichen, öffentlichen Schulen unterscheide.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2011 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Maßgeblich sei die nächstgelegene Schule des Bildungsgangs. Die W.schule sei eine Privatschule mit dem Ziel eines Schulabschlusses, der den Abschlüssen der öffentlichen Schulen gleichstehe. Nach der gesetzlichen Regelung des § 28 Abs. 4 SGB II können nur die Schülerbeförderungskosten zur nächstgelegenen Schule des gewählten Bildungsganges berücksichtigt werden, vorliegend mithin der Abschluss der Grundschule mit einer Empfehlung für die weiterführende Schule; Ausnahmeregelungen oder Härtefallregelungen sehe das Gesetz nicht vor.

Dagegen hat die Klägerin am 27. November 2011 Klage bei dem Sozialgericht Schleswig erhoben und zur Begründung vorgetragen: Bei den W.schulen handele es sich um staatlich anerkannte Ersatzschulen mit einer besonderen pädagogischen Prägung, die nach ihrem Gesamtzweck als Ersatz für eine öffentliche Schule dienten. Die W.pädagogik zeichne sich durch ein gemeinsames Lernen von der ersten bis zur zwölften Klasse und einem eigenverantwortlich geprägten und gestalteten Unterricht mit entsprechenden Lehrmethoden und Lehrinhalten, u.a. Gartenbau, Eurythmie sowie einem Schwerpunkt in künstlerischen und gestalterischen Fächern, aus. Die W.schulzeit ende nach der zwölften Klasse mit dem W.abschluss; nach Abschluss der 12. Klasse bestehe die Möglichkeit der Teilnahme an einem dreizehnten Schuljahr, das mit dem Abitur oder der Fachhochschulreife entsprechend der Landesverordnung über die Abiturprüfung für Externe sowie für Schülerinnen und Schüler an nicht staatlich anerkannten Ersatzschulen und W.schulen (APVO-EW) vom 2. Juli 2008 abgeschlossen werden könne.

Das Landesrecht könne nicht als Maßstab für die Beurteilung des Tatbestandsmerkmals “Bildungsgang„ herangezogen werden, da es sich bei der Regelung des § 28 SGB II um Bundesrecht handele. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung (u.a. Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg, Urteil vom 6. Mai 2013 - 2 LC 380/10 -, juris) und der Literatur werde die Frage, wann jeweils von einem eigenen “Bildungsgang„ gesprochen werden könne, kontrovers unter Heranziehung des jeweiligen Landesrechts diskutiert. Da in den Bundesländern der Begriff “Bildungsgang„ aber unterschiedlich definiert werde, könne nicht auf ein einheitliches Verständnis des Tatbestandsmerkmals “Bildungsgang„ zurückgegriffen werden. Auch habe die Verteilung von Bundesmitteln nach einheitlichen Kriterien zu erfolgen; für eine landesrechtliche Beurteilung fehle es insoweit an einer Kompetenzzuweisung. Die in § 28 Abs. 4 SGB II niedergelegten Verteilungsmaßstäbe müssten daher bundeseinheitlich beurteilt werden, so dass auch freie/private Träger, die einen eigenen Bildungsgang im Sinne des § 28 Abs. 4 SGB II wahrnehmen, von den Förderhilfen pro...

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