Entscheidungsstichwort (Thema)

sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Anforderungen bei Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Vollziehungsfrist gem § 929 ZPO. Zeitpunkt der Beurteilung des Vorliegens des Anordnungsgrundes. Schülerbeförderung -Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. § 86b Abs 2 S 4 SGG iVm § 929 Abs 2 ZPO ist unter Berücksichtigung der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes verfassungskonform im Falle von das Existenzminimum sichernden Leistungen dahin auszulegen, dass die Bereitschaft des Anspruchstellers, gegen die leistungsgewährende Behörde vorzugehen, sich entweder durch Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen oder durch unmissverständliches Festhalten an seiner Position im von der Behörde eingeleiteten Beschwerdeverfahren ergeben muss. Ein solches ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Anspruchsteller innerhalb der vom Gericht gesetzten (im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes regelmäßig kurzen) Frist zur Erwiderung auf die Beschwerde der Behörde Stellung nimmt und damit die Ernsthaftigkeit seines Anliegens erneut deutlich macht.

2. § 929 ZPO ist eine Norm, die nach ihrer ursprünglichen gesetzgeberischen, der ZPO zugrunde liegenden Konzeption regelmäßig zwischen zwei privaten Parteien anzuwenden war. Anders ist die Situation im sozialgerichtlichen Verfahren. Hier kann sich der Bürger grundsätzlich darauf verlassen, dass eine juristische Person des öffentlichen Rechts, zu der ein Landkreis zählt, sich wegen der in Art 20 Abs 3 GG verankerten Bindung an Gesetz und Recht auch ohne Vollstreckungsdruck gesetzestreu verhält.

3. Zudem dienen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB 2 der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Ein derartiges Leben zu gewährleisten, ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot des Schutzes der Menschenwürde gemäß Art 1 Abs 1, 3 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip nach Art 20 Abs 1, 3 GG folgt (BVerfG vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05 = Breith 2005, 803). Ziel der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes betriebenen Streitigkeiten um Leistungen nach dem SGB 2 ist regelmäßig die Verhinderung der Verletzung des grundgesetzlich gewährleisteten Existenzminimums und damit die Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens (vgl BVerfG, aaO). Eine uneingeschränkte Anwendung von § 929 Abs 2 ZPO auch in derartigen Verfahren hätte zur Folge, dass ein Anspruchsteller nach Erlangung einer sein Begehren stützenden einstweiligen Anordnung durch das erstinstanzliche Gericht, der auf die Bindung der öffentlichen Verwaltung an Recht und Gesetz vertraut und daher Maßnahmen nach § 929 Abs 2 ZPO unterlässt, darauf verwiesen würde, zur Durchsetzung seiner Rechte eine neue einstweilige Anordnung beim erstinstanzlichen Gericht zu erwirken (vgl LSG Chemnitz vom 24.1.2008 - L 3 B 610/07 AS-ER, LSG Schleswig vom 4.1.2007 - L 11 B 509/06 AS-ER = Breith 2007, 535 und LSG Stuttgart vom 20.11.2007 - L 7 AY 5173/07 ER-B). Bis zu dieser erneuten einstweiligen Anordnung des erstinstanzlichen Gerichts vergingen wiederum regelmäßig Wochen, in denen das Existenzminimum nicht gesichert wäre. Die damit verbundene erhebliche Beeinträchtigung der genannten Grundrechte könnte nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) bei derartiger Verfahrensweise nachträglich nicht mehr (adäquat) ausgeglichen werden, weil der “elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden (kann), in dem er entsteht„.

4. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes muss gemäß Art 19 Abs 4 GG vielmehr so ausgestaltet sein, dass schwere und unzumutbare Beeinträchtigungen - auch vorübergehender Art - nicht eintreten. Die Gerichte sind daher verpflichtet, sich unter Beachtung dessen schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen zu stellen. Das gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Es besteht daher die Verpflichtung der Gerichte, eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur zeitweilig andauert, zu verhindern (BVerfG, aaO).

5. Im Rahmen der Hilfebedürftigkeit kann nur tatsächlich vorhandenes Einkommen und Vermögen berücksichtigt werden. Eine Berücksichtigung von fiktivem Einkommen und Vermögen sieht das SGB 2 nicht vor.

6. In einem auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichteten Verfahren beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Antrag entscheidet. Im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung.

Ein fortbestehender schwerer unzumutbarer Nachteil aus der Nichtgewährung der Leistungen ist gegeben, wenn ein besonderer Nachholbedarf besteht, dh wenn die Nichtgewährung der begehrten Leistungen in der Vergangenheit auch in Zukunft fortwirkt und noch eine weiterhin gegenwärtige, die einstweilige Anordnung rechtfertigenden Notlage begründet. Dies kann gegeben sein, wenn der Antragsteller zur Bestre...

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