Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylbewerberleistung. Anspruchseinschränkung. Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen. fehlende Mitwirkung bei der Passbeschaffung. Beschränkung der Leistungen auf das physische Existenzminimum. Fortsetzung der Anspruchseinschränkung nach sechs Monaten. Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Die fortgesetzte Gewährung nur eingeschränkter Leistungen nach § 1a Abs 3 S 1, Abs 1 S 2 AsylbLG iVm § 14 Abs 2 AsylbLG verstößt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus Art 20 Abs 3 GG.

 

Orientierungssatz

Die Regelung des § 1a Abs 1 S 2 AsylbLG, wonach bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine Anspruchseinschränkung nur noch Leistungen zur Gewährleistung des physischen Existenzminimums erbracht werden, widerspricht verfassungsrechtlichen Vorgaben.

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 15. Oktober 2020 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung dazu verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ungekürzte Grundleistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz unter Anrechnung erbrachter Leistungen zu gewähren für die Zeit vom 1. Dezember 2020 bis zum 28. Februar 2021. Im Übrigen wird der Eilantrag abgelehnt. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für beide Rechtszüge dem Grunde nach zur Hälfte zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung ungekürzte Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Der 1985 geborene Antragsteller ist indischer Staatsbürger. Im Januar 2014 hatte er sich dazu entschlossen, seinen Herkunftsstaat zu verlassen. Sein Transfer nach Europa kostete rund 6.000 Euro. Nach eigenen Angaben ist der Antragsteller am

26. Mai 2014 mit einem Visum der Deutschen Botschaft aus Indien aufgebrochen und am Tag darauf, am 27. Mai 2014, in Deutschland angekommen. In Z.... habe ihm sein "Schleuser" seinen Reisepass und sein Schulzeugnis weggenommen. Am 29. Mai 2014 beantragte er, ihm Asyl bzw. internationalen Schutz zu gewähren. Zur Durchführung des Asylverfahrens wurde der Antragsteller dem Antragsgegner zugewiesen. Dieser erteilte dem Antragsteller am 21. August 2014 eine Aufenthaltsgestattung. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte die Anträge auf Asyl, auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet ab (Bescheid vom 24. Januar 2017). Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Ansonsten werde er nach Indien abgeschoben. Der Antragsteller dürfe auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei. Dieser Bescheid ist seit dem 13. April 2017 bestandskräftig. Seither ist der Antragsteller vollziehbar ausreisepflichtig und geduldet nach § 60b Aufenthaltsgesetz (AufenthG), da er nicht über die erforderlichen Rückreisedokumente verfügt.

Über seine Mitwirkungspflichten zur Passbeschaffung informierte der Antragsgegner den Antragsteller nach der Aufforderung durch den Beigeladenen mit Schreiben vom 30. August 2017 erstmals am 19. September 2017. Der Antragsteller teilte mit, keinen Pass oder sonstige Identitätspapiere zu besitzen. Daneben forderte der Beigeladene den Antragsteller mit einem gesonderten Schreiben vom 2. Oktober 2017 mit einer eingeräumten Frist bis zum 3. November 2017 auf, sich zum Besitz von Rückreisedokumenten zu erklären und von seinen Mitwirkungspflichten Kenntnis zu nehmen. Diese Frist ließ der Antragsteller verstreichen. Am 19. Februar 2018 übermittelte ihm der Antragsgegner einen Vordruck, um einen Pass bei der Indischen Botschaft zu beantragen. Dieses Formular reichte der Antragsteller am 12. April 2018 ohne Unterschrift zurück. Der Bitte, diese zu ergänzen, kam er auch während seiner Vorsprache beim Antragsgegner am 12. Juli 2018 nicht nach. Daraufhin lehnte dieser seinen Antrag, eine Beschäftigung als Servicekraft in einem Imbiss ausüben zu dürfen, mit Bescheid vom 21. August 2018 nach vorheriger Anhörung (Schreiben vom 30. Juli 2018) ab.

Am 5. Februar 2019 beantragte der Antragsteller erneut beim Antragsgegner, einer Beschäftigung nachgehen zu dürfen. In seiner Anhörung wies der Antragsgegner nochmals auf die Verpflichtung hin, bei der Passbeschaffung mitzuwirken. Daraufhin sprach der Antragsteller am 4. Juli 2019 persönlich beim Antragsgegner vor. Dabei schilderte er den Fall eines Bekannten, der dem Antragsgegner seinen Reisepass vorgelegt habe und anschließend innerhalb von sechs Monaten abgeschoben worden sei. Der Antragsgegner informierte den Antragsteller sodann darüber, dass dieser ohne Identitätsklärung und ohne Reisepass in Deutschland keine Möglichkeiten zum Arbeiten erhalten werde. Dem entsprechend erging der Bescheid vom 11. Juli 2019, mit welchem der Antragsgegner auch den weiteren Antrag auf Genehmigung ein...

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