Entscheidungsstichwort (Thema)

Entschädigung für unangemessene Verfahrensdauer in Grundsicherungsangelegenheiten. Präklusionswirkung der Verzögerungsrüge. Nebenverfahren über Prozesskostenhilfe selbst nicht entschädigungsrechtlich relevant

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die in einer Instanz nicht oder nicht ordnungsgemäß erhobene Verzögerungsrüge führt zur materiell rechtlichen Präklusion des Entschädigungsanspruchs wegen überlanger Verfahrensdauer für diese Instanz.

2. Eine Verzögerungsrüge begrenzt den Entschädigungsanspruch wegen überlanger Verfahrensdauer nicht auf den Zeitraum, der sechs Monate vor Erhebung der Verzögerungsrüge beginnt (entgegen BFH, Urteil vom 06.04.2016 - X K 1/15 - juris).

3. Das Prozesskostenhilfeverfahren stellt als Nebenverfahren während eines laufenden Hauptsacheverfahrens kein eigenes Gerichtsverfahren im Sinne des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG dar. Bei einem solchen Nebenverfahren können nur die durch eine verspätete Bewilligung von Prozesskostenhilfe bewirkten Verzögerungen des Hauptsacheverfahrens entschädigungsrechtlich relevant sein.

4. Fehlt jegliches Konzept zur Bewältigung der strukturellen Überlastung eines Gerichts, kann dies für eine generelle Vernachlässigung des Anspruchs auf Rechtsschutz in angemessener Zeit aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 78 Abs. 3 SächsVerf sprechen, die eine Abweichung von der Pauschale des § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG gebietet.

5. Der Entschädigungsanspruch wegen überlanger Verfahrensdauer steht in Fällen der subjektiven Klagehäufung jeder am Gerichtsverfahren beteiligten Person in voller Höhe zu.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 07.09.2017; Aktenzeichen B 10 ÜG 3/16 R)

 

Tenor

I. Der Beklagte wird verurteilt,

1. an die Klägerin zu 1) 2.300,00 € nebst Zinsen ab dem 24.09.2015 in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz,

2. an den Kläger zu 2) 2.300,00 € nebst Zinsen ab dem 24.09.2015 in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz,

3. an die Klägerin zu 3) 2.300,00 € nebst Zinsen ab dem 24.09.2015 in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz,

4. an die Klägerin zu 4) 2.300,00 € nebst Zinsen ab dem 24.09.2015 in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz und

5. an den Kläger zu 5) 2.300,00 € nebst Zinsen ab dem 24.09.2015 in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz

zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Die Kosten des Verfahrens tragen der Beklagte zur Hälfte und die Kläger je zu einem Zehntel.

III. Die Revision wird zugelassen.

IV. Der Streitwert wird auf 23.000,00 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Kläger begehren Entschädigung für die Dauer des Gerichtsverfahrens S 29 AS 958/08 und L 3 AS 238/11 vor dem Sozialgericht Dresden (SG) und dem Sächsischen Landessozialgericht (LSG).

Die Klägerin zu 1, ihre Töchter, die Klägerinnen zu 3 und 4, ihr Lebensgefährte, der Kläger zu 2, und deren gemeinsamer Sohn, der Kläger zu 5, bezogen ab Januar 2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Wegen Einkommensbezugs setzte der Grundsicherungsträger mit Änderungsbescheid vom 26.06.2006 die Leistungen unter Aufhebung der bisherigen Bewilligungen für die Zeit vom 01.01.2005 bis 30.09.2006 neu fest und forderte mit Erstattungsbescheid vom 26.06.2006 die sich daraus für die Zeit vom 01.01.2005 bis 31.03.2006 ergebende Überzahlung von insgesamt 12.898,11 € zurück. Hiergegen erhoben die Kläger nach erfolglosem Vorverfahren (Widerspruchsbescheide vom 22.02.2008) am 27.02.2008 beim SG Klage. Der Verlauf des Ausgangsrechtsstreits gestaltete sich folgendermaßen:

1. Instanz    

(ursprünglich S 31 AS 958/08, später S 29 AS 958/08)

27.02.2008

Klageschrift mit Begründung,

27.03.2808

Klageerwiderung mit Verwaltungsakten,

31.03.2008

gerichtlicher Hinweis an die Kläger,

11.04.2008

Stellungnahme der Kläger zum gerichtlichen Hinweis,

05.05.2008

Stellungnahme der Kläger zur Klageerwiderung,

05.06.2008

Erwiderung des Ausgangsbeklagten,

06.06.2008

gerichtliche Anfrage bei der Arbeitsagentur,

11.06.2008

Erwiderung der Kläger und Akteneinsichtsgesuch,

16.06.2008

Verwaltungsakten an Klägerbevollmächtigte,

19.06.2008

Antwort der Arbeitsagentur,

24.06.2008

Rücklauf der Verwaltungsakten beim SG,

02.07.2008

weitere Stellungnahme der Kläger,

01.08.2008

Erwiderung des Ausgangsbeklagten,

08.04.2009

gerichtliche Anfragen an Ausgangsbeklagten und Arbeitsagentur,

28.04.2009

Äußerung des Ausgangsbeklagten,

29.04.2009

weitere gerichtliche Anfrage an Arbeitsagentur,

11.05.2009

Eingang von Leistungsakten und Vermerken der Arbeitsagentur,

12.10.2009

Erinnerung der Arbeitsagentur an Beantwortung der Anfrage,

26.10.2009

Äußerung der Arbeitsagentur,

02.08.2010

ausführliche gerichtliche Hinweise und Fragen an Ausgangsbeteiligte,

26.08.2010

Äußerung des Ausgangsbeklagten,

27.08.2010

Äußerung der Kläger,

01.10.2010

Erwiderung des Ausgangsbeklagten,

07.01.2011

Ladungsverfügung des SG,

24.01.2011

gerichtliche Hinweise an Ausgangsbeteiligte,

28.01.2011

Äußerung des Ausgangsbeklagten,

01.02.2011

Äußerung der Kläger,

01.02.2011

münd...

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