Leitsatz (amtlich)

Ein Kraftfahrer, der einen die Fahrbahn aus seiner Sicht von links nach rechts überquerenden, trotz Dunkelheit bereits aus einiger Entfernung erkennbaren Fußgänger vor dem Zusammenstoß nicht bemerkt hat, darf nicht darauf vertrauen, der Fußgänger werde sich bei der Fahrbahnüberquerung verkehrsgerecht verhalten.

 

Normenkette

BGB § 254; StVG §§ 7, 9, 18; StVO § 1 Abs. 2, § 25 Abs. 3

 

Verfahrensgang

LG Saarbrücken (Urteil vom 21.09.2021; Aktenzeichen 8 O 14/21)

 

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 21.9.2021 - 8 O 14/21 - wird zurückgewiesen.

II. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.

III. Dieses Urteil und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 115 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Die Klägerin nimmt die Beklagten auf Schadensersatz wegen eines Verkehrsunfalls am 16.11.2018 in Saarbrücken-Brebach in Anspruch.

Die zum Unfallzeitpunkt 64 Jahre alte Klägerin war gegen 17.40 Uhr bei Dunkelheit als Fußgängerin von ihrer damaligen Wohnung zu der Bushaltestelle in der Saarbrücker Straße unterwegs. Bei dem Versuch, die zweispurige und etwa acht Meter breite Saarbrücker Straße in Höhe der Hausnummern 119/121 zu überqueren, wurde sie von dem aus ihrer Sicht von rechts herannahenden, von der Beklagten zu 1 geführten Pkw Opel Corsa (amtl. Kennz. XXX) erfasst, der bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversichert war. Die Beklagte zu 1 hatte die Klägerin, die noch ca. einen Meter von dem gegenüberliegenden Fahrbahnrand entfernt war, zuvor nicht wahrgenommen.

Die Klägerin, bei der bereits vor dem Unfall infolge eines Hüftleidens ein Grad der Behinderung von 70 % mit dem Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit) vorlag, trug durch das Unfallereignis lebensgefährliche Verletzungen davon, aufgrund deren sie rollstuhlabhängig in einem Pflegeheim untergebracht werden musste.

Die Beklagte zu 2 erkannte vorgerichtlich ihre Einstandspflicht nach Maßgabe einer Haftungsquote von 1/3 an. Mit ihrer Klage hat die Klägerin, die eine Haftungsquote der Beklagten von 70 % für richtig hält, die Feststellung erstrebt, dass ihr die Beklagten in diesem Umfang zum Ersatz ihrer materiellen und immateriellen Schäden verpflichtet sind.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Beklagte zu 1 habe in Anbetracht der guten Ausleuchtung und des geraden Verlaufs der Saarbrücker Straße im Bereich der Unfallstelle ihre Sorgfaltspflichten in grobem Maße verletzt. Sie hat behauptet, die Beklagte zu 1 hätte die Kollision durch Abbremsen ihres Fahrzeugs oder durch eine Ausweichbewegung nach links unschwer vermeiden können.

Die Beklagten haben - gestützt auf eine Zeugenaussage im Ermittlungsverfahren - behauptet, die Klägerin sei zunächst auf der Fahrbahnmitte stehen geblieben und habe gewartet, sie sei dann aber weitergegangen, obwohl das herannahende Beklagtenfahrzeug für sie erkennbar gewesen sei. Der Unfall sei daher für die Beklagte zu 1 unvermeidbar gewesen. Die Beklagten haben zudem einen Verstoß der Klägerin gegen § 25 Abs. 3 StVO darin gesehen, dass diese nicht die in unmittelbarer Nähe zur Unfallstelle befindliche Fußgängerampel zum Überqueren der zum Unfallzeitpunkt stark befahrenen Saarbrücker Straße benutzt habe.

Das Landgericht hat einen Zeugen vernommen und die im Ermittlungsverfahren erstatteten Gutachten verwertet. Durch das angefochtene Urteil, auf dessen tatsächliche Feststellungen gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen wird, hat es unter Abweisung der weitergehenden Klage die gesamtschuldnerische Verpflichtung der Beklagten festgestellt, der Klägerin über die bisher regulierten Schadensbeträge hinaus 2/3 der vergangenen und zukünftigen immateriellen und materiellen Schäden aus dem Unfallereignis zu ersetzen, sofern die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Mit der Berufung rügen die Beklagten das Fehlen eines gerichtlichen Beschlusses nach § 411a ZPO als Voraussetzung für die wirksame Ersetzung einer schriftlichen Begutachtung durch das im Ermittlungsverfahren eingeholte verkehrstechnische Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. H.. Sie sind ferner der Ansicht, dass in erster Instanz ein Ergänzungsgutachten hätte eingeholt werden müssen. Das Landgericht habe aus der Tatsache, dass der Zeuge A. die Klägerin gesehen habe, geschlossen, dass diese auch für die Beklagte zu 1 sichtbar gewesen sei. Dies werde jedoch durch das Sachverständigengutachten nicht bestätigt. Die Klägerin sei vielmehr auf der Fahrbahnmitte stehend für die Beklagte zu 1 nicht erkennbar gewesen. Das Landgericht habe zudem eine Sichtbarkeit der Klägerin zu einem Zeitpunkt unterstellt, als die Beklagte zu 1 noch keine Veranlassung gehabe habe, auf die Kläger...

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