Rn 32

Unterhaltsrechtlich maßgeblich können auch aufgrund einer unterhaltsrechtlichen Obliegenheit nicht erzielte, aber erzielbare Einkünfte sein (vgl auch Ziff 9 der Leitlinien). Dies gilt gleichermaßen für den Pflichtigen wie den Berechtigten (zur Verfassungsmäßigkeit der Zurechnung fiktiver Einkünfte BVerfG FamRZ 12, 1283). Die Zurechnung eines fiktiven Einkommens muss sowohl dem Grund als auch der Höhe nach besonders gerechtfertigt sein, weil nur mit tatsächlich vorhandenen Einkünften der Lebensbedarf gedeckt werden kann (Jüdt FuR 12, 520). Der Ansatz fiktiven Einkommens ist eine Ausnahme (BVerfG FamRZ 21, 274; BGH FamRZ 13, 109), die besonders begründet werden muss. Die Zurechnung fiktiver Einkünfte basiert nach Treu und Glauben auf den sowohl auf dem Unterhaltsschuldner als auch auf dem Unterhaltsgläubiger lastenden wechselseitigen Obliegenheiten, alle zumutbaren Einkünfte zu erzielen (BGH NJW 10, 1658; FamRZ 00, 1358). Die Zurechnung fiktiver Einkünfte erfolgt anhand einer Vier-Stufen-Prüfung: Obliegenheit zur Einkommenserzielung, kausale Verletzungshandlung, Prüfung des Verschuldensmaßstabs, Zurechnung der Höhe der fiktiven Einkünfte.

 

Rn 32a

Das BVerfG (FamRZ 21, 274) hat erneut seine Rspr bestätigt, wonach die Instanzgerichte oftmals zu leichtfertig von fiktiven Einkünften ausgingen. Das BVerfG erwartete angesichts der mit der Zurechnung fiktiver Einkünfte verbundenen Gefahr eine Überschätzung der realen Möglichkeit. Es erwartet eine eingehende Begründung aller die Entscheidung tragender Grundlagen. Bei der Zurechnung eines fiktiven Nebenverdienstes sind die physischen und zeitlichen Belastungen aus der Haupttätigkeit einschließlich der erforderlichen Wegezeiten zu berücksichtigen (grundl BVerfG FamRZ 03, 661).

Zusammengefasst: Die Zurechnung fiktiver Einkünfte, welche die Leistungsfähigkeit begründen sollen, setzt zweierlei voraus. Zum einen muss feststehen, dass subjektiv Erwerbsbemühungen des Unterhaltsschuldners fehlen. Zum anderen müssen die zur Erfüllung von Unterhaltspflichten erforderlichen Einkünfte vom Verpflichteten objektiv erzielbar sein, was von seinen persönlichen Voraussetzungen, wie bspw Alter, berufliche Qualifizierung, Erwerbsbiografie, Gesundheitszustand und dem Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen abhängt (BGH FamRZ 08, 2104; 08, 2107; 09, 314). Fehlt es daran und wird die Erwirtschaftung eines Einkommens abverlangt, welches objektiv nicht erzielt werden kann, liegt regelmäßig ein unverhältnismäßiger Eingriff in die wirtschaftliche Handlungsfreiheit vor (BVerfG FamRZ 08, 1145).

Diese Grundsätze gelten auch bei der Verpflichtung zur Zahlung des Mindestunterhalts für ein minderjähriges Kind. Formelhafte Feststellungen jedenfalls reichen nicht aus, um auskömmliches Einkommen im Wege der Fiktion zu unterstellen.

 

Rn 32b

Es wird nicht mehr als ausreichend angesehen werden können, zur Höhe eines erzielbaren Einkommens auf branchenspezifische Tarifverträge zu verweisen, wenn diese nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden sind. Ein als Küchenhelfer beschäftigter Unterhaltspflichtiger kann ungeachtet unzulänglicher Deutschkenntnisse neben einer Vollzeittätigkeit zu Mindestlohn nicht ohne Weiteres noch weitere 450,– EUR aus einer Geringverdienerbeschäftigung erzielen (fehlerhaft daher AG Bergheim FamRZ 21, 102). Das AG übersieht hierbei, dass dies bei einem Mindestlohn von 9,50 EUR (ab 1.1.22 = 9,82 EUR, ab 1.7.22 10,45 EUR) nur zu erreichen wäre, wenn die zulässige Höchstarbeitszeit nach § 3 ArbZG dauerhaft überschritten würde. Zudem verändern fiktive Bezüge die Voraussetzungen zur Bemessung aller einkommensabhängigen Leistungen der sozialen Unterstützung wie Wohngeld (bedenklich daher Brandbg FamRZ 21, 1023), Kinderzuschlag (BGH FamRZ 21, 181) und BAföG. Der Beschluss des BVerfG sollte zugleich als Mahnung verstanden werden, fiktive Einkünfte nicht vorschnell und großzügig zugrunde zu legen (krit zu Recht Niepmann NZFam 21, 76).

 

Rn 32c

Genügt das Einkommen aus einer selbstständigen Tätigkeit, um den Mindestunterhalt minderjähriger Kinder zu gewährleisten, besteht keine Obliegenheit, diese Tätigkeit aufzugeben. Die gesteigerte Erwerbspflicht reicht nicht über die Leistung des Mindestunterhalts hinaus, sodass es für die Zurechnung eines höheren fiktiven Einkommens aus einer abhängigen Beschäftigung keine Grundlage gibt (Brandbg FamRZ 21, 1039).

 

Rn 32d

Bei der Prüfung der Leistungsfähigkeit iRd Kindesunterhalts sind Verluste aus einer selbstständigen Nebentätigkeit nicht zu berücksichtigen, wenn deren Fortführung unvernünftig ist. Dies gilt auch dann, wenn der Mindestunterhalt gesichert ist und deshalb keine gesteigerte Erwerbsobliegenheit mehr besteht (Frankf NZFam 21, 746).

 

Rn 32e

Fiktive Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung können nicht angesetzt werden, wenn eine leerstehende Wohnung erst noch in einen vermietbaren Zustand gebracht werden muss (Frankf FamRZ 21, 191).

 

Rn 32f

Einen Unterhaltsschuldner trifft auch die Obliegenheit, vorhandenes Vermögen ertragreich anzulegen. Diese ...

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