I. Dogmatik.

1. Funktion und Konzeption des § 823 II.

 

Rn 226

§ 823 II als verhaltensbezogene Haftungsnorm betrifft Verstöße gegen gesetzliche Verhaltensregeln (in Abgrenzung zu den für die Haftung für Verkehrspflichtverletzung maßgeblichen richterrechtlichen Verhaltensgeboten). Anders als § 823 I ist die Haftung nach Abs 2 nicht auf bestimmte Rechtsgüter beschränkt und kann daher auch bei reinen Vermögensschäden greifen. Zudem wirkt schon der Verstoß gegen das Schutzgesetz haftungsbegründend, bei abstrakten Gefährdungsdelikten also bereits die Verletzung des jeweiligen Verhaltensgebots. Freilich muss dadurch letztlich ein Schaden verursacht worden sein (s.a. Dresd BeckRS 08, 17843); die Vorverlagerung des Schutzes bei § 823 II bleibt jedoch für quasinegatorische Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche (Vor § 823 Rn 15) von Bedeutung.

 

Rn 227

Wegen der strukturellen Parallelen entsprechen sich auch die Voraussetzungen der Haftung nach § 823 II und derjenigen bei Verletzung von Verkehrspflichten weitgehend – bis auf die nach der hier vertretenen Auffassung erforderliche Verletzung eines Rechtsguts iSd § 823 I bei der Haftung für Verkehrspflichtverletzung (s.o. Rn 3).

2. Prüfungsaufbau.

a) Vorliegen eines Schutzgesetzes.

aa) Rechtsnorm.

 

Rn 228

Schutzgesetz kann jede Rechtsnorm iSd Art 2 EGBGB sein (RGZ 135, 242, 245), unabhängig vom Rechtsgebiet. In Betracht kommen nicht nur parlamentarische Gesetze, sondern zB auch Rechtsverordnungen (wichtig: StVO), Satzungen über die Räum- und Streupflicht (Köln NJW-RR 96, 655, 656; Celle VersR 98, 604; aA Larenz/Canaris § 76 III 7c) oder polizeiliche Vorschriften mit Außenwirkung (Hamm VersR 02, 1519: Hundeanleinverordnung).

 

Rn 229

Bei einer Reihe von Normen ist der Schutzgesetzcharakter zweifelhaft bzw umstrittten. Bei Unfallverhütungsvorschriften, zB gem § 15 SGB VII, ist str, ob es sich lediglich um interne Normen handelt (so insb BGH NJW 68, 641, 642 mwN; VersR 69, 827, 828 [BGH 13.05.1969 - VI ZR 270/67]; offengelassen von BGH NJW 84, 360, 362) oder ob sie auch die Versicherten vor Unfallgefahren schützen (so zB Staud/J Hager § 823 Rz G 14; MüKo/Wagner § 823 Rz 552; BeckOGK/Spindler § 823 Rz 259). Bei verwaltungsrechtlichen Ermächtigungsgrundlagen und darauf beruhenden Verwaltungsakten geht die Rspr davon aus, dass der Verwaltungsakt iVm der Ermächtigungsgrundlage als Schutzgesetz zu qualifizieren sein könne, wenn durch den Verwaltungsakt ein drittschützendes Verhalten auferlegt werde (zB BGHZ 62, 265, 266 f; NJW 97, 55; unklar BGHZ 122, 1, 3). Teilweise wird angenommen, dass die Ermächtigungsgrundlage auch ohne konkretisierenden Verwaltungsakt als Schutzgesetz in Betracht komme (BGH NJW 95, 132, 134; 04, 356, 357; Erman/Wilhelmi § 823 Rz 156; unklar BGHZ 122, 1, 3), nach aA soll dies nur möglich sein, wenn sie weder Beurteilungsspielraum noch Ermessen enthält (BeckOGK/Spindler § 823 Rz 263). Einigkeit besteht darüber, dass der Verwaltungsakt selbst keine Rechtsnorm und daher kein Schutzgesetz ist (s insb BGHZ 122, 1, 3; NJW 95, 132, 134). Bei Verwaltungsvorschriften (zB TALuft, TALärm, TAAbfall) wird meist angenommen, dass sie lediglich behördenintern binden und daher keine Schutzgesetze sein können (zB Staud/J Hager § 823 Rz G 15; NK-BGB/Katzenmeier § 823 Rz 527), nach aA (insb MüKo/Wagner § 823 Rz 553; BeckOGK/Spindler § 823 Rz 260) können sie wegen ihrer normkonkretisierenden Wirkung im Einzelfall Schutzgesetze sein. Privat gesetzte Rechtsregeln (zB ISO, DIN) sind keine Rechtsnormen iSd Art 2 EGBGB (BGHZ 139, 16, 19 f; Frankf NJW-RR 09, 571 zur VOB/B) und daher keine Schutzgesetze iSd § 823 II; dies gilt auch für Vereinssatzungen (RGZ 135, 242, 245; Köln OLGR 80, 228, 230). Anders kann die Situation bei Tarifverträgen sein, denen durch gesetzliche Vorschriften letztlich Normcharakter beigemessen wird (s insb BeckOGK/Spindler § 823 Rz 256, 261; Erman/Wilhelmi § 823 Rz 154). Richterrecht kommt mangels Rechtsnormcharakters prima facie nicht als Schutzgesetz in Betracht; es ist in erster Linie Quelle für die Entstehung von Verkehrspflichten. Die Gewaltenteilung spiegelt sich daher in der Aufteilung der verhaltensbezogenen Deliktshaftung für Verkehrspflichtverletzung und wegen Schutzgesetzverletzung wider. Entscheidungen des BVerfG mit Gesetzesrang gem § 31 II BVerfGG können jedoch Schutzgesetze sein (Staud/J Hager § 823 Rz G 9; BeckOGK/Spindler § 823 Rz 257). Auch bei Gewohnheitsrecht wird teilw eine Eignung als Schutzgesetz angenommen (Staud/J Hager § 823 Rz G 11; BeckOGK/Spindler § 823 Rz 257; Erman/Wilhelmi § 823 Rz 155; einschr Larenz/Canaris § 77 II 1c). Zu den Besonderheiten bei echten Unterlassungsdelikten Claussen Die Haftung für echte Unterlassungsdelikte nach § 823 Abs 2 BGB 21, 199 ff.

bb) Schutzzweck.

 

Rn 230

Eine Norm kommt nur als Schutzgesetz iSd § 823 II in Betracht, wenn sie nicht nur dem Schutz der Allgemeinheit dient, sondern zumindest auch die Interessen des Einzelnen gezielt schützen soll; ein Individualschutz ausschließlich als Reflex des Schutzes von Allgemeininteressen, wie zB bei § 267 StGB, reicht nicht aus (s zB BGHZ 66, 388, 390; NJW 05, 2923, 2924; BGHZ 176, 281 Rz 51; VersR 10, 123...

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