Rn 43

›Weiterfresserschäden ieS‹ fallen in den Grenzbereich zwischen Vertrags- und Deliktshaftung: Bei der Sachmängelgewährleistung ist problematisch, dass im Zeitpunkt des Gefahrübergangs ein Teilmangel vorhanden ist, der erst später auf die Gesamtsache übergreift. Bei der Deliktshaftung bereitet das Erfordernis einer Verletzung des Integritätsinteresses Probleme. Entscheidend ist daher die Grenzziehung zwischen deliktsrechtlich relevanter Eigentumsverletzung und nicht ersatzfähigem reinem Vermögensschaden.

 

Rn 44

Die Rspr geht von uneingeschränkter Konkurrenz vertrags- und deliktsrechtlicher Ansprüche aus (s insb BGHZ 67, 359, 362 f; NJW 78, 2241, 2242; 04, 1032, 1033; 21, 1883 Rz 10). Heute sieht sie für das Vorliegen einer Eigentumsverletzung nicht mehr den Mangel eines ›funktionell begrenzten Einzelteils‹ (BGHZ 67, 359, 364 f; NJW 78, 2241), sondern fehlende ›Stoffgleichheit‹ zwischen Mangelunwert und Schaden als entscheidend an (BGHZ 86, 256, 258 f; NJW 83, 813; 05, 1423, 1425 ff; 21, 1883 Rz 11, 15 ff mit Präzisierung für Werkverträge, wobei hier mit der Revisionserwiderung sinnvoller auf den Schutzumfang der verletzten Pflichten abzustellen gewesen wäre).

 

Rn 45

In der Lit existieren zahlreiche abweichende Lösungsvorschläge (ausf Schaub Haftung und Konkurrenzfragen bei mangelhaften Produkten und Bauwerken im deutschen und englischen Recht 99, 24 ff): Die vertragsrechtlichen Lösungen reichen von einer Anwendung der kaufrechtlichen Mängelgewährleistungsregeln (zB Brüggemeier 338 ff; ders JZ 99, 99 [BGH 31.03.1998 - VI ZR 109/97]) über Garantiehaftung (de lege ferenda G Hager AcP 1984, 413, 432 ff; ders BB 87, 1748, 1751) bis zum Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte (insb Schwenzer JZ 88, 525, 531; Canaris FS Larenz II 27, 100 f). Die deliktsrechtlichen Lösungen entwickeln teilw andere Kriterien als die Rspr für die Abgrenzung zwischen Eigentumsverletzung und reinem Vermögensschaden, zB Verursachung des Schadens durch Unfall bzw irregulären Geschehensablauf (Lang Zur Haftung des Warenlieferanten bei ›weiterfressenden‹ Mängeln im deutschen und anglo-amerikanischen Recht 81, 181; Mayer BB 84, 318, 319 f), Differenzierung zwischen statischen und dynamischen Mängeln (zB Nickel VersR 84, 318, 319 f; 87, 32 f; Merkel NJW 87, 358, 359 f), zwischen umwelt- und produktgefährdenden Mängeln (G Hager AcP 1984, 413, 417; Wesch Die Produzentenhaftung im internationalen Rechtsvergleich 94, 155 f), zwischen wesentlichen und unwesentlichen Bestandteilen iSd Sachenrechts (Ebel NJW 78, 2494 f), zwischen Eingriff und Verfügung des Rechtsgutsträgers (Plum AcP 1981, 68 ff; Bälz Zum Strukturwandel des Systems zivilrechtlicher Haftung 91, 52) oder zwischen Normal- und Kardinalmangel (J Schmidt 29 f) oder Abstellung auf die Verletzung von Instruktionspflichten bei ›Weiterfresserschäden ieS‹ und auf die Substanzverletzung bei ›Weiterfresserschäden iwS‹ (Gsell Substanzverletzung und Herstellung 03, insb 95 ff, 243 ff). Teilweise wird stärker auf die Verletzung von Verkehrspflichten als auf das Vorliegen einer Eigentumsverletzung abgestellt (zB Erman/Wilhelmi § 823 Rz 125; Lang Zur Haftung des Warenlieferanten bei ›weiterfressenden‹ Mängeln im deutschen und anglo-amerikanischen Recht 81, 180 ff; Keibel Eigentumsverletzung im Sinne des § 823 BGB bei kauf- und werkvertraglichen Mängeln 84, 78; Katzenmeier Vertragliche und deliktische Haftung 40 f, 73 ff; Brüggemeier WM 82, 1294, 1300; Stoll JZ 83, 501, 503 f; G Hager AcP 1984, 413, 417 f; Mertens VersR 80, 397, 406). Lösungen auf Konkurrenzebene versuchen, die Anwendung des § 823 I auf ›Weiterfresserschäden‹ auszuschließen oder einzuschränken, um die vertraglichen Mängelgewährleistungsregeln nicht zu unterlaufen (zB Schlechtriem Vertragsordnung und außervertragliche Haftung 72, 292 ff; ProdHHdb/Foerste § 21 Rz 29 ff; ders NJW 92, 27 [BGH 04.07.1991 - I ZR 2/90]; Grunewald JZ 87, 1098; D Koch Produkthaftung. Zur Konkurrenz von Kaufrecht und Deliktsrecht 95, 218 ff, 231 ff; für die Verjährung auch BeckOGK/Spindler § 823 Rz 153 aE).

 

Rn 46

Da keines der in Rspr und Lit erwogenen Abgrenzungskriterien völlig zu überzeugen vermag, sollte auf Zweck und Zielrichtung der Deliktshaftung für mangelhafte Produkte bzw Werkleistungen, also den Schutz des Erwerbers und Dritter vor von mangelhaften Gegenständen bzw ihren Einzelteilen ausgehenden Gefahren, zurückgegriffen werden. Danach sind die Verkehrspflichten des Produzenten bzw Werkunternehmers zu bestimmen und zugleich einzugrenzen: Sofern durch die Lieferung eines mangelhaften Gegenstands bzw durch eine mangelhafte Werkleistung Rechtsgüter iSd § 823 I gefährdet werden, sollte bei Eintritt eines Schadens nach § 823 I gehaftet werden – unabhängig davon, ob tatsächlich andere Rechtsgüter betroffen sind oder (zufällig) nur der Vertragsgegenstand beschädigt wurde. Das solchermaßen konkretisierte, eigenständige deliktsrechtlich relevante Unrecht ermöglicht auch eine freie Konkurrenz dieser Haftung mit der vertragsrechtlichen Mängelgewährleistung.

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