Gesetzestext

 

Bei der Beurteilung des Verhaltens der Person, deren Haftung geltend gemacht wird, sind faktisch und soweit angemessen die Sicherheits- und Verhaltensregeln zu berücksichtigen, die an dem Ort und zu dem Zeitpunkt des haftungsbegründenden Ereignisses in Kraft sind.

 

Rn 1

Art 17 verlangt – einem international weitgehend anerkannten Grundsatz folgend – die Berücksichtigung von Sicherheits- und Verhaltensregeln am Ort des haftungsbegründenden Ereignisses, also am Handlungsort (Erw 34; G Wagner IPRax 08, 1, 5). Die Regelung spielt vor allem dann eine Rolle, wenn das anwendbare Recht nicht das Recht des Ortes des haftungsbegründenden Ereignisses ist, also insb iRd Grundanknüpfung (Art 4 I) bei Distanzdelikten, aber auch häufig bei Sonderanknüpfungen wie denjenigen an das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts der Beteiligten (zB Art 4 II, 10 II, 11 II, 12 II lit b, s etwa München IPRax 18, 414 [OLG München 30.11.2016 - 3 U 2750/16] Rz 17, allerdings ohne Erwähnung von Art 17), bei der Anwendung von Ausweichklauseln (zB Art 4 III, 5 II, 10 IV, 11 IV, 12 II lit c; für eine marktortspezifische Modifikation des Produkthaftungsrechts Titze Sicherheits- und Verhaltensregeln im Produkthaftungsstatut 18, 115 ff; zur Produkthaftung unter Zugrundelegung des Ortes des Inverkehrbringens als Ort des haftungsbegründenden Ereignisses Maultzsch FS Ebke 653, 658 f) oder bei der Rechtswahl iSd Art 14 (v Hein FS v Hoffmann 139, 144; allerdings besteht keine Möglichkeit zur Wahl der relevanten Sicherheits- und Verhaltensregeln, s nur Diehl Die Dogmatik der ›Berücksichtigung‹ im Internationalen Deliktsrecht 20, 186 f mwN zum Meinungsstand).

 

Rn 2

Sicherheits- und Verhaltensregeln iSd Art 17 sind gem Erw 34 alle Vorschriften, die im Zusammenhang mit Sicherheit und Verhalten stehen, insb Verkehrsregeln (für Straßen-, Wasser-, Luftverkehr; s etwa LG Kleve SVR 13, 99), aber auch etwa sicherheitsrelevante sportliche Verhaltensregeln (zB die FIS-Verhaltensregeln für Ski- und Snowboardfahrer, Dresd BeckRS 13, 199165; München IPRax 18, 414 [OLG München 30.11.2016 - 3 U 2750/16] Rz 17 ff, krit dazu Diehl IPRax 18, 371, 372 ff; ders Die Dogmatik der ›Berücksichtigung‹ im Internationalen Deliktsrecht 20, 167 f; für weite Auslegung Eckert GPR 15, 303, 306 ff), Produktsicherheitsvorschriften (zur Anwendung von Sicherheits- und Verhaltensregeln des Marktstaates Titze Sicherheits- und Verhaltensregeln im Produkthaftungsstatut 18, 115 ff), umweltrechtliche Sicherheitsregeln und auch kapitalmarktrechtliche Verhaltenspflichten (Einsele RabelsZ 17, 781, 802 ff), Pflichten bei der Prospekthaftung (Keßenich Berücksichtigung statutsfremder Sicherheits- und Verhaltensregeln. Die Anwendung des Art 17 Rom II-VO am Beispiel grenzüberschreitender Prospekthaftung 20, 212 ff) und sogar die elterliche Aufsichtspflicht (Staudinger/Nitkowski DAR 20, 471, 475). Denkbar wäre es auch, die Pflichten nach dem LkSG unter Art 17 zu fassen (s zB Kieninger ZfPW 21, 252, 254; aA Rühl/Knauer JZ 22, 105, 110 f; Spindler ZHR 22, 67, 111), aber wegen des gerichtlichen Ermessens ist die Rechtslage hier derzeit noch völlig offen. Mitunter wird der Anwendungsbereich von Art 17 bei nicht streng territorial gebundenen Regeln eingeschränkt (v Hein FS v Hoffmann 139, 144 ff mwN; im Ansatz auch Keßenich Berücksichtigung statutsfremder Sicherheits- und Verhaltensregeln. Die Anwendung des Art. 17 Rom II-VO am Beispiel grenzüberschreitender Prospekthaftung 20, 72 f); hier können sich jedoch im Einzelfall schwierige Differenzierungsfragen stellen. Daher sollte allenfalls ganz ausnahmsweise von der Grundregel des Art 17, die insoweit keine Differenzierung vorsieht, abgewichen werden. Teilweise wird Art 17 auch auf die ›zentrale Verhaltenspflicht‹ eines Abschlussprüfers nach § 323 I 1 HGB für anwendbar gehalten (Ebke ZVglRWiss 10, 397, 438); hier müsste jedoch sehr präzise definiert werden, welche Standards im Einzelnen unter Art 17 fallen. Eine Erweiterung von Art 17 auf inländische Regeln zur Höhe des Ersatzes vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten bei Verkehrsunfällen im Ausland (Jayme Liber Amicorum C Kohler 193, 198 f) dürfte de lege lata über den Wortlaut von Art 17 hinausgehen, so sinnvoll sie auch in der Sache sein mag. Die von Art 17 erfassten Vorschriften gelten innerhalb ihres räumlichen Anwendungsbereichs für sämtliche Akteure und sind daher auch iRv Deliktsansprüchen zu berücksichtigen, die nach einem anderen Recht zu beurteilen sind.

 

Rn 3

Die Berücksichtigung erfolgt als Auslandssachverhalt, dh iRd Tatbestands der jeweiligen Haftungsregel (s zB Siems RIW 04, 662, 666; v Hein VersR 07, 440, 446; Leible/Lehmann RIW 07, 721, 725; Junker NJW 07, 3675, 3681; aA zB Symeonides FS Jayme 935, 942; diff Pfeiffer Liber Amicorum Schurig 229, 236; Titze Sicherheits- und Verhaltensregeln im Produkthaftungsstatut 18, 132; krit Keßenich Berücksichtigung statutsfremder Sicherheits- und Verhaltensregeln. Die Anwendung des Art 17 Rom II-VO am Beispiel grenzüberschreitender Prospekthaftung 20, 80...

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