Rn 3

Eine gesetzliche Begriffsbestimmung findet sich für die materielle Rechtskraft weder in der ZPO noch im BGB. Über den Zweck, den Inhalt und das Wesen der materiellen Rechtskraft gibt es dementsprechend unterschiedliche Anschauungen. Zwar kommt den verschiedenen Rechtskrafttheorien eine wichtige Rolle bei der rechtstheoretisch richtigen Einordnung der Rechtskraftwirkungen zu. Für die Klärung praktischer Streitfragen zum Umfang der Rechtskraft haben sie aber allenfalls untergeordnete Bedeutung (dazu Martens ZZP 79 (1966), 405). Sie sollen daher hier nur knapp dargestellt werden (ausf MüKoZPO/Gottwald § 322 Rz 7 ff). Nach den älteren materiellen Rechtskrafttheorien (RGZ 46, 336; Pagenstecher S 302 ff) wird dem rechtskräftigen Urt die Wirkung beigemessen, die materielle Rechtslage entsprechend der Entscheidung zu ändern, was insb für mögliche unrichtige Entscheidungen Konsequenzen hat. Nach einer neueren materiellen Rechtskrafttheorie (Pohle GS Calamandrei 57, S 377) begründet die rechtskräftige Entscheidung eine unwiderlegbare Vermutung für die Richtigkeit der festgestellten Rechtsfolge. Nach heute fast einhelliger Ansicht wird demgegenüber die Auffassung vertreten, dass es – von den Sonderfällen der Gestaltungsurteile abgesehen – nicht Aufgabe des Richters ist, die materielle Rechtslage zu verändern und Ansprüche neu zu begründen, sondern seine Funktion vielmehr darin besteht, über das bestehende Recht zu entscheiden (Musielak/Voit/Musielak § 322 Rz 4 mwN). Innerhalb der Vertreter einer solchen prozessualen Rechtskrafttheorie herrscht wiederum Uneinigkeit darüber, ob das Wesen der Rechtskraft nur in der Bindung des Richters eines zweiten Prozesses an die bereits getroffene Entscheidung liegt (Grunsky VerfahrensR § 47 III 2). Nach dieser Bindungstheorie stellt die Rechtskraft kein Prozesshindernis dar und verhindert dementsprechend nur eine abweichende, nicht aber eine zweite gleichlautende Entscheidung. Die heute ganz hL (zB Zö/G.Vollkommer Vor § 322 Rz 17; Anders/Gehle/Gehle ZPO Vor § 322 Rz. 11; MüKoZPO/Gottwald § 322 Rz 13 ff), der sich auch der BGH angeschlossen hat (BGHZ 34, 337 = NJW 61, 917), betrachtet die materielle Rechtskraft als negative Prozessvoraussetzung für eine erneute Klage über den Gegenstand der rechtskräftigen Entscheidung. Dies gilt uneingeschränkt bei Identität der Streitgegenstände, aber auch wenn der Gegenstand der rechtskräftigen Entscheidung in einem später anhängig gemachten Verfahren präjudiziell ist, verhindert die materielle Rechtskraft eine erneute Verhandlung und Entscheidung über diese Vorfrage (BGH NJW 83, 2032 [BGH 17.02.1983 - III ZR 174/81]). Die materielle Rechtskraft sichert damit innerhalb ihrer objektiven, subjektiven, zeitlichen und räumlichen Grenzen die Maßgeblichkeit der formell rechtskräftigen Entscheidung. Ihr Hauptzweck liegt in der endgültigen Befriedung eines kontradiktorischen Parteienstreits, der über denselben Streitgegenstand nicht wiederholt werden soll (St/J/Althammer § 322 Rz 27 ff). Dieses ne-bis-in-idem-Gebot liegt damit zum einen im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens der Parteien (BGHZ 93, 287, 289 = NJW 85, 1711), dient aber auch dem Allgemeininteresse, indem es das Ansehen der Gerichte wahrt und Wiederholungen des Streits über ein und denselben Streitstoff ausschließt (BGHZ 123, 30, 34 = NJW 93, 2943).

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