Rn 3

Gerichtskundig sind Tatsachen, die dem Gericht – entweder dem Einzelrichter oder der Mehrheit eines Kollegiums – aus seiner jetzigen oder früheren Tätigkeit in dienstlicher Eigenschaft bekannt geworden sind (Stackmann NJW 10, 1409). Dies können Erkenntnisse aus früheren Zivil- und Strafverfahren sein, aus Vorgängen der Freiwilligen Gerichtsbarkeit oder aus Angelegenheiten der Justizverwaltung, also etwa eine strafgerichtliche Verurteilung, das Ergebnis einer Beweisaufnahme eines früheren Verfahrens, die Erbenstellung einer Partei, die Existenz einer Betreuung, die Prozessunfähigkeit einer Partei, die Streichung eines Anwalts aus der Anwaltsliste, die Anerkennung einer Vaterschaft oder die Ablehnung der Insolvenzeröffnung mangels Masse (vgl Musielak/Voit/Huber Rz 2). Dazu reicht es allerdings nicht aus, dass der Richter die Tatsache selbst nie positiv gekannt hat, sondern sie nur aktenkundig ist, dh sie vom Richter nunmehr erstmalig festgestellt werden müsste (sog Aktenkundigkeit; vgl BGHZ 227, 1, 9 Rz 27; Ddorf NJW-RR 21, 252, 253 [BGH 16.12.2020 - VII ZB 46/18] Rz 13; St/J/Thole Rz 9; Anders/Gehle/Nober ZPO Rz 10; str, aA ThoPu/Seidel Rz 2; vgl auch Stackmann NJW 10, 1409, 1410 ff zu Erkenntnissen aus parallel geführten Massenverfahren). Anderenfalls wäre die Grenze zum Urkundenbeweis überschritten, der einen entsprechenden Beweisantritt einer Partei voraussetzt (zutr Musielak/Voit/Huber Rz 2). Sind dem Gericht die Aussagen von Zeugen aus einem früheren Verfahren bekannt, können sie gleichwohl nicht als gerichtsbekannt verwertet werden, wenn die beweispflichtige Partei deren Vernehmung beantragt (vgl BGH MDR 11, 562 [BGH 04.11.2010 - I ZR 190/08]). Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 355 I 1) hat in diesem Falle Vorrang.

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