Rn 11

Gegenstand des Beweises können auch Erfahrungssätze sein. Darunter sind Regeln der allgemeinen Lebenserfahrung sowie die iRe besonderen Fach- und Sachkunde erworbenen Regeln aus Kunst, Wissenschaft, Handwerk und Gewerbe, Handel und Verkehr zu verstehen (MüKoZPO/Prütting Rz 44). Dazu gehört auch das Bestehen eines Handelsbrauchs (BGH NJW-RR 89, 991 f [BGH 30.03.1989 - I ZR 2/87]; Celle NJW-RR 00, 178 [OLG Celle 23.07.1998 - 14 U 145/97]; zur schlüssigen Darlegung eines Handelsbrauchs vgl BGH NJW 18, 1957, 1959 Rz 30), einer Verkehrssitte (BGHZ 111, 110, 112 = NJW 90, 1723, 1724) und einer Verkehrsanschauung (BGH NJW-RR 95, 676, 677). Die Besonderheit von Erfahrungssätzen besteht darin, dass sie – anders als Tatsachen – nicht Bestandteil der Subsumtion sind, sondern ähnl wie Rechtsnormen als Obersätze oder jedenfalls als Bestandteil von Obersätzen dienen. Sie brauchen deshalb von den Parteien nicht behauptet zu werden und sind auch nicht geständnisfähig (St/J/Thole Rz 21; zweifelnd Foerste FS Schilken 15, 261, 269 ff; für einen behaupteten Handelsbrauch oder eine Verkehrssitte wird man auch Beweislastgrundsätze heranziehen müssen, vgl Baumgärtel/Laumen Bd 1 Kap 3 Rz 5). Soweit über Erfahrungssätze Beweis erhoben werden muss, geschieht dies regelmäßig durch Einholung eines Sachverständigengutachtens, im Einzelfall zur Feststellung einer Verkehrsanschauung auch durch eine Meinungsumfrage (vgl BGH NJW 93, 493, 494; BGHZ 156, 250, 254 = NJW 04, 1163, 1164). Die Einleitung eines förmlichen Beweisverfahrens ist aber zur Feststellung von Erfahrungssätzen nicht zwingend geboten. Der Richter kann auch auf die eigene Sachkunde zurückgreifen oder selbst Ermittlungen anstellen (Oestmann JZ 03, 285 ff). Dies gilt etwa für Sätze der allgemeinen Lebenserfahrung, die die Grundlage bilden für einen Anscheinsbeweis oder für sog tatsächliche Vermutungen. Bei Kollegialgerichten reicht es dabei aus, dass eines der Mitglieder die erforderliche Sachkunde besitzt (vgl BGHSt 12, 18, 19 = NJW 58, 156). Das Gericht muss den Parteien dann allerdings Gelegenheit geben, zu der beanspruchten Sachkunde Stellung zu nehmen (BGH NJW 96, 584, 586; 18, 2730, 2731 [BGH 09.01.2018 - VI ZR 106/17] Rz 16). Spätestens im Urt ist auch im Einzelnen darzulegen, aus welchen Gründen das Gericht die eigene Sachkunde für ausreichend erachtet hat (BGH NJW 00, 1946, 1947 [BGH 21.03.2000 - VI ZR 158/99]). Bei der Heranziehung der eigenen Sachkunde ist aber stets Vorsicht geboten. So kann das Gericht etwa einen medizinischen Standard grds nicht ohne eine entsprechende Grundlage in einem Sachverständigengutachten oder gar entgegen den Ausführungen eines Sachverständigen aus eigener Beurteilung festlegen (BGH NJW 15, 1601, 1602 Rz 10). Das Gleiche gilt zB, wenn es darum geht, einen ärztlichen Behandlungsfehler als grob zu qualifizieren (BGH NJW 11, 2508 Rz 8), den Facharztstandard festzulegen (BGH NJW 21, 1536 Rz 14 ff) oder einen Verstoß gegen anerkannte Regeln der Technik festzustellen (BGH BauR 19, 1011 Rz 11). Der Verstoß gegen Erfahrungssätze kann vom Revisionsgericht nachgeprüft werden (BGH NJW 03, 1244, 1246 [BGH 20.11.2002 - VIII ZR 211/01]; ausf Foerste FS Schilken 15, 261 ff). Dies gilt auch für die Sätze der allgemeinen Lebenserfahrung, obwohl dabei häufig nur die Lebenserfahrung von Berufungsrichtern durch die von Revisionsrichtern ersetzt wird (krit deshalb Foerste aaO). Etwas anderes gilt nur für die Würdigung des Beweiswertes eines nicht allgemein bekannten Erfahrungssatzes im Einzelfall (BGH NJW 73, 1411 [BGH 14.02.1973 - IV ZR 15/72])

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