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Die Wahrheitspflicht verpflichtet – entgegen ihrer amtlichen Überschrift – die Parteien lediglich, keine wissentlichen Falschaussagen zu tätigen. Die Norm stellt somit ein Lügeverbot dar. Der Vortrag muss lediglich der subjektiven Überzeugung der Partei entsprechen, zumal die objektive, tatsächliche Wahrheit der Partei oft unbekannt ist. Folglich verlangt Abs 1 keine Wahrheitspflicht sondern eine Wahrhaftigkeitspflicht. Der Partei ist ausschließlich eine Aussage wider besseres Wissen untersagt. Sie darf hingegen Tatsachen behaupten, von deren Vorliegen sie nicht überzeugt ist, ebenso darf sie Behauptungen des Gegners bestreiten, selbst wenn sie es für möglich hält, dass die Aussagen der Wahrheit entsprechen. Zu einer bewusst falschen Aussage ist eine Partei nicht berechtigt, auch wenn sie den tatsächlichen Umstand für unerheblich hält (BGH NJW 11, 2794 [BGH 31.05.2011 - XI ZR 369/08]). Weitergehende Bedeutung des Abs 1 will Gomille der Norm zuweisen.

Aussagen der Partei, die ohne jeglichen Anhaltspunkt, sozusagen ›ins Blaue‹ hinein, formuliert wurden, sind von den Gerichten unterschiedlich beurteilt worden. Richtigerweise ist auch hier darauf abzustellen, dass § 138 I lediglich ein bewusst unwahres Vortragen sanktioniert, somit jegliche Behauptungen der Partei, sofern sie diese auch nur für entfernt möglich hält, ohne weiteres Vorbringen von Anhaltspunkten zulässig ist (vgl BGH NJW-RR 15, 829 [BGH 16.04.2015 - IX ZR 195/14]; MüKoZPO/Wagner Rz 9; Musielak/Voit/Stadler Rz 6; BAG NJW 14, 3677, 3679 [BAG 25.06.2014 - 7 AZR 847/12]).

Dementsprechend ist auch ein Hilfsantrag der Partei zulässig, selbst wenn er im Widerspruch zum Hauptantrag steht (BGH NJW-RR 15, 829 [BGH 16.04.2015 - IX ZR 195/14]). Solange die Partei nicht wissentlich etwas Falsches äußert, steht ihr das Recht zu, sich in einem Eventualvortrag auf die Behauptungen des Gegners zu stützen, für den Fall, dass sie ihre (gegenteilige) Tatsachenbehauptung nicht beweisen kann, um dadurch überhaupt eine Verurteilung zu erreichen (zB behauptet der Kl einen Kaufpreis von 15.000 EUR, der Beklagte bestreitet dies generell und trägt hilfsweise vor, es handele sich nur um 5.000 EUR, Anders/Gehle/Anders ZPO Rz 19). Ist das Gericht vom Hauptvortrag überzeugt, ist ein gegenteiliger Eventualvortrag allerdings unbeachtlich (BGH MDR 19, 1076 [BGH 04.07.2019 - III ZR 202/18]).

Ein Teil der Lehre gesteht der Partei zu, von ihr als objektiv falsch erkanntes, für sie ungünstiges Vorbringen des Gegners gegen sich gelten zu lassen, solange nicht kollusiv dadurch ein Dritter geschädigt werde. Abs 1 verbiete folglich nur die Unwahrheit zu eigenen Gunsten (St/J/Kern Rz 6 mwN). Davon abgesehen, dass außer dem Motiv der Drittschädigung fast kein Fall denkbar ist, bei dem die Partei für sie ungünstiges Vorbringen einfach hinnehmen sollte, widerspricht dieser Ansatz auch dem Sinn und Zweck des § 138, der ein faires Verfahren gewährleisten soll und folglich die Wahrheits- und Vollständigkeitspflicht der Partei nicht nur ggü dem Gegner sondern auch ggü dem Gericht bestimmt (vgl MüKoZPO/Wagner Rz 13).

Das Verbot der wissentlichen Falschaussage erstreckt sich sowohl auf das Behaupten als auch auf das Bestreiten von tatsächlichen Umständen, also auf alle inneren und äußeren Vorgänge, die einer Nachprüfung durch einen Dritten zugänglich sind. Dazu gehören auch Rechtstatsachen, also Begriffe wie Kauf, Eigentum etc, durch die ein Anspruch der ausführenden Partei zB begründet werden soll. Rechtsausführungen hingegen müssen grds nicht von Seiten der Partei getätigt werden (iura novit curia) und sind nicht von der Wahrheitspflicht umfasst.

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