Rn 15

Entspr gilt für den durch Gemeinschaftsverträge als hoheitliches Rechtspflegeorgan eingerichteten und mit Letztentscheidungsbefugnissen ausgestatteten Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), der ebenfalls ›gesetzlicher Richter‹ iSd innerstaatlichen Rechts ist. Nach stRspr des BVerfG stellt es einen Entzug des gesetzlichen Richters dar, wenn ein nationales Gericht seine Pflicht zur Anrufung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267 AEUV (vormals Art 234 EG) nicht beachtet (vgl zusammenfassend BVerfG NJW 11, 1131 [BVerfG 05.01.2011 - 1 BvR 2870/10] und 11, 3428 [BVerfG 19.07.2011 - 1 BvR 1916/09]; s.a. BVerfGE 73, 339, 366 f [BVerfG 22.10.1986 - 2 BvR 197/83], Einfuhrbeschränkungen für Champignonkonserven; 82, 159, 192 ff, Sonderabgaben Agrar, zu Art 177 EWGV). Für ein nationales letztinstanzliches Gericht besteht eine Vorlagepflicht zum EuGH, wenn sich in einem Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, die nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblich ist und die nicht bereits Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH war (›acte éclairé‹) und wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts nicht derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt (BVerfG ZIP 12, 1876 und 13, 924). Verstöße sind allerdings auch insoweit am Maßstab des Verfassungsrechts (Art 101 I 2 GG) nur zu beanstanden, wenn die Verfahrensweise des nationalen Gerichts im konkreten Fall bei verständiger Würdigung ›nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist‹ (BVerfG WM 06, 1724, betr aktienrechtliche Entscheidungen ua des BGH zum Umfang der Berichtspflicht des Vorstands bei Kapitalerhöhung). Auch aus dem Gemeinschaftsrecht ergibt sich kein Gebot einer lückenlosen Nachprüfung der Vorlagepflicht iS einer über den Willkürmaßstab hinausgehenden ›Vollkontrolle‹ (BVerfG NVwZ-RR 08, 658 [BVerfG 06.05.2008 - 2 BvR 2419/06]). Nach diesen Maßstäben ist von einer ›offensichtlich unhaltbaren‹ Verfahrensweise erst bei ›grds Verkennung der Vorlagepflicht‹ auszugehen, wenn ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz nach eigener Auffassung bestehender Entscheidungserheblichkeit der gemeinschaftsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hat. Entspr gilt für den Fall des ›bewussten Abweichens ohne Vorlagebereitschaft‹, wenn in der Entscheidung des letztinstanzlichen Hauptsachegerichts bewusst von der Rspr des EuGH zu entscheidungserheblichen Fragen abgewichen und insoweit nicht oder nicht erneut vorgelegt wird. Letzteres umfasst auch die Fälle, in denen ein nationales Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass der EuGH bei seiner Rspr die eigenen Kompetenzen überschritten habe. Auch dieser Einwand rechtfertigt keine Abweichung; die Geltendmachung derartiger Bedenken ist vielmehr iR neuerlicher Vorlage geltend zu machen (BVerfG NJW 88, 1459, Direktwirkung der 6. UStRiL). Mehrere wiederholende Vorlagen desselben Gerichts zu einer gleichen oder ähnlichen Rechtsfrage in verschiedenen Verfahren sind verfassungsrechtlich nicht geboten, wenn die in der Parallelsache ergangene Beantwortung des EuGH keinen Raum für ›vernünftige Zweifel‹ lässt (BVerfG NJW 11, 3428).

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