Rn 1

Die Vorschriften (bis 2015: ex-Art 18–21) gelten für individualvertragliche Arbeitsrechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Diese Merkmale sind europäisch-autonom auszulegen. In Betracht kommt eine Anlehnung an das EU-Primärrecht. Danach besteht das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (EuGH Slg 86, 2121, Rz 16 f; Slg 08, I-6989, Rz 45). Darunter fallen: Teilzeit (EuGH Slg 82, 1035), Ausbildungsverhältnisse (vgl EuGH Slg 86, 2121), Telearbeit, Heimarbeit, Arbeitsverhältnisse zwischen Familienmitgliedern, privatrechtliche Arbeitsverträge der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes; faktische Arbeitsverhältnisse, soweit ein Über- und Unterordnungsverhältnis vorliegt (EuGH ECLI:EU:C:2022:807 Rz. 32); der Arbeitsbereich ist gleichgültig (EuGH C-196/87: Mitarbeit in Bhagwan-Sekte gegen Logis und Taschengeld); auch die äußere rechtstechnische Konstruktion kann durchbrochen werden (LAG Frankfurt, LAGE § 611 BGB Arbeitnehmerbegriff Nr. 41: Polnische ›GbR-Gesellschafter‹ als AN). Im Zusammenhang mit Mutterschutzvorschriften hat der EuGH auch Organmitglieder (Geschäftsführer, Vorstände) als Arbeitnehmer angesehen, soweit diese nicht unternehmerisch beteiligt sind sowie nach Weisung oder unter Aufsicht eines anderen Organs handeln (EuGH C-232/09 Rz 56). Dies kann man auf den vorliegenden Zusammenhang übertragen (EuGH C-47/14; hiervon ausgehend auch EuGH ECLI:EU:C:2022:807 Rz 32; aA StJ/Wagner Art 18 Rz 14). Die Mithaftung eines Dritten für Arbeitgeberverpflichtungen, etwa aufgrund einer Garantie oder Patronatserklärung einer Muttergesellschaft, steht einem Arbeitsverhältnis gleich, falls auch im Verhältnis zu dieser ein faktisches Über- und Unterordnungsverhältnis besteht (EuGH ECLI:EU:C:2022:807 Rz. 32).

 

Rn 2

Bei den räumlich-territorialen Anwendungsvoraussetzungen unterscheidet die VO nach der Parteirolle: Auf Aktivprozesse des Arbeitnehmers sind Art 20 ff auch dann anwendbar, wenn der Unternehmer seinen Sitz in einem Drittstaat hat (Art 21 II iVm 21 I lit b). Das bedeutet, dass – entgegen der früheren Rechtslage – der Arbeitnehmer den Arbeitgeber bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art 21 I lit b auch dann am Arbeitsort verklagen kann, wenn dieser seinen Sitz in einem Drittstaat hat. Bei Passivprozessen des Arbeitnehmers ist dieser durch Art 22 geschützt; nur bei Vorliegen von dessen Voraussetzungen ist die VO anwendbar.

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