Gesetzestext

 

(1) Nach Ablauf der in Artikel 16 Absatz 2 genannten Frist ist der Antragsgegner berechtigt, bei dem zuständigen Gericht des Ursprungsmitgliedstaats eine Überprüfung des Europäischen Zahlungsbefehls zu beantragen, falls

a)
i) der Zahlungsbefehl in einer der in Artikel 14 genannten Formen zugestellt wurde, und
ii) die Zustellung ohne Verschulden des Antragsgegners nicht so rechtzeitig erfolgt ist, dass er Vorkehrungen für seine Verteidigung hätte treffen können,

oder

b) der Antragsgegner aufgrund höherer Gewalt oder aufgrund außergewöhnlicher Umstände ohne eigenes Verschulden keinen Einspruch gegen die Forderung einlegen konnte,

wobei in beiden Fällen vorausgesetzt wird, dass er unverzüglich tätig wird.

(2) Ferner ist der Antragsgegner nach Ablauf der in Artikel 16 Absatz 2 genannten Frist berechtigt, bei dem zuständigen Gericht des Ursprungsmitgliedstaats eine Überprüfung des Europäischen Zahlungsbefehls zu beantragen, falls der Europäische Zahlungsbefehl gemessen an den in dieser Verordnung festgelegten Voraussetzungen oder aufgrund von anderen außergewöhnlichen Umständen offensichtlich zu Unrecht erlassen worden ist.

(3) Weist das Gericht den Antrag des Antragsgegners mit der Begründung zurück, dass keine der Voraussetzungen für die Überprüfung nach den Absätzen 1 und 2 gegeben ist, bleibt der Europäische Zahlungsbefehl in Kraft.

Entscheidet das Gericht, dass die Überprüfung aus einem der in den Absätzen 1 und 2 genannten Gründe gerechtfertigt ist, wird der Europäische Zahlungsbefehl für nichtig erklärt.

 

Rn 1

Obwohl das Europäische Mahnverfahren einstufig ausgestaltet ist, soll diese Vorschrift dem Antragsgegner in besonders begründeten Fällen auch nach der Vollstreckbarerklärung des Europäischen Zahlungsbefehls noch eine Möglichkeit geben, dessen Berechtigung überprüfen zu lassen. Diese Ausnahmefälle sind die unverschuldete Nichteinhaltung der Einspruchsfrist (Abs 1) oder ein ›offensichtlich zu Unrecht‹ erlassener Europäischer Zahlungsbefehl (Abs 2).

 

Rn 2

Der in Abs 1 beschriebene Rechtsbehelf ähnelt strukturell der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (MüKoZPO/Ulrici Rz 3). Dabei ist in Abs 1 lit a ii) auf die (verspätete) Kenntnisnahme durch den Antragsgegner abzustellen und nicht auf den Zeitpunkt der Zustellung, wie der Wortlaut suggeriert (Hess/Bittmann IPRax 08, 305, 309). In Betracht kommen zB Fälle der Hinterlegung im Briefkasten bei längerer Abwesenheit des Antragsgegners (Röthel/Sparmann WM 07, 1101, 1104) oder andere Verzögerungen, wobei aber den Antragsgegner kein Verschulden treffen darf.

 

Rn 3

Die Überprüfungsmöglichkeit des Abs 1 besteht nach ihrem Wortlaut nicht, wenn dem Antragsgegner der Zahlungsbefehl gar nicht wirksam zugestellt wurde (EuGH EuZW 18, 1001, 1004 m krit Anm Ulrici; EuGH EuZW 14, 916, 917). Der EuGH (aaO) verweist für diese Fälle auf das nationale Verfahrensrecht, dazu § 1092 Rn 3.

 

Rn 4

Eine Überprüfung gem Abs 1 lit b setzt außerdem höhere Gewalt oder außergewöhnliche Umstände voraus. Letztere liegen nicht vor, wenn der Rechtsanwalt des Antragsgegners die Einspruchsfrist falsch berechnet (EuGH 21.3.13 – C-324/12).

 

Rn 5

Darüber hinaus stellt Abs 2 einen weiteren Rechtsbehelf für ›außergewöhnliche Umstände‹ zur Verfügung. Dessen Voraussetzungen sind aber eng auszulegen, um ihn nicht zu einer generellen zweiten Einspruchsmöglichkeit werden zu lassen, die nicht zu dem einstufigen Verfahren der EuMVVO passt. Der Verordnungsgeber dachte hier insb an Fälle des Prozessbetrugs durch falsche Angaben im Antragsformular (Erw 25; McGuire GPR 07, 303, 305). Angeblich falsche Angaben zu zuständigkeitsbegründenden Tatsachen rechtfertigen keine Überprüfung gem Abs 2 (EuGH 22.10.15 – C-245/14, RIW 16, 55 m Anm von Hein).

 

Rn 6

Andererseits käme hier auch eine Übertragung der zum deutschen Mahnverfahren entwickelten Rspr in Betracht, wonach die Nutzung des Mahnverfahrens missbräuchlich und sittenwidrig ist, wenn die Forderung aus Rechtsgründen offensichtlich nicht besteht (BGHZ 101, 380). Zumindest in derartigen Missbrauchsfällen ist der Europäische Zahlungsbefehl offensichtlich zu Unrecht erlassen worden (Preuß ZZP 122, 3, 17; Roth IPRax 17, 63, 64; aA Freitag IPRax 07, 509, 511; MüKoZPO/Ulrici Rz 26).

 

Rn 7

Die (analoge) Anwendung des Abs 2 käme auch für Fälle in Betracht, in denen der Zahlungsbefehl nicht wirksam zugestellt wurde (so noch Röthel/Sparmann WM 07, 1101, 1104) und daher die Vollstreckbarerklärung unwirksam ist. Dies hat der EuGH (EuZW 14, 916, 917) jedoch abgelehnt (krit dazu Hess/Raffelsieper IPRax 15, 401). Stattdessen solle das nationale Verfahrensrecht gelten, s jetzt § 1092a.

 

Rn 8

Das Überprüfungsverfahren ist für deutsche Gerichte in § 1092 geregelt.

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