Leitsatz (amtlich)

1. Stehen mehrere medizinisch sinnvolle und angezeigte Behandlungsmethoden zur Verfügung, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten, so muss der Patient selbst prüfen und mitentscheiden können, was er an Belastungen und Gefahren im Hinblick auf möglicherweise unterschiedliche Erfolgschancen der verschiedenen Behandlungsmethoden auf sich nehmen will.

2. Zur Pflicht der Aufklärung einer Schwangeren durch den Geburtshelfer in der laufenden 31. Schwangerschaftswoche nach Blasensprung über die Möglichkeit der Hinauszögerung der Geburtseinleitung mit Förderung der Lungenreife anstelle der bewusst eingeleiteten Frühgeburt.

 

Verfahrensgang

LG Magdeburg (Urteil vom 22.11.2006; Aktenzeichen 9 (8) O 3006/00)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das am 22.11.2006 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des LG Magdeburg wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen. Die Beschwer der Beklagten übersteigt 20.000 EUR.

und beschlossen:

Der Gebührenstreitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis zu 230.000 EUR festgesetzt.

 

Gründe

A. Der Kläger verlangt Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen Gesundheitsschäden, die er im Zusammenhang mit seiner Geburt am 6.7.1994 erlitten hat.

An diesem Tag stellte sich seine damals 39 Jahre alte Mutter gemeinsam mit dem Vater des Klägers in der Frauenklinik der Beklagten vor, nachdem die Fruchtblase geplatzt war. Sie befand sich zu diesem Zeitpunkt in der abgeschlossenen 30. Schwangerschaftswoche. Die klinische Untersuchung der Mutter des Klägers wurde von der Ärztin Dr. Kn. durchgeführt, die keine Wehentätigkeit feststellte. Ihre Körpertemperatur betrug 37,1 Grad und stieg bis um 21:00 Uhr auf 37,5 Grad an. Ein Abstrich wies keine Infektionsparameter auf. Die Gabe wehenfördernder Medikamente führte nicht zum Erfolg, so dass die damalige Oberärztin Dr. Ke. eine Schnittentbindung anordnete.

Vor der Geburt wurde die Mutter des Klägers über die allgemeinen Risiken einer

Anästhesie, einer Schnittentbindung und einer Blutübertragung aufgeklärt. Ob eine Aufklärung der Mutter über die Möglichkeit des Abwartens bis zur weiteren Reifung des Kindes stattgefunden hat, ist zwischen den Parteien streitig.

Die sectio caesarea begann um 22:20 Uhr. Um 22:29 Uhr wurde der Kläger bei einem Geburtsgewicht von 2200 Gramm und Apgarwerten von 7/8/8 (aus max. 10/10/10) geboren. Nach der Entbindung wurde das Kind dem Kinderarzt übergeben.

Aufgrund einer oberflächlichen Atmung mit Atempausen wurde sodann eine Intubation erforderlich. Am folgenden Tag wurde bei einem ersten Ultraschall eine periventrikuläre Echogenitätserhöhung beobachtet. Am 12.7.1994 zeigten sich am Ultraschall zunehmende Blutungen mit Erweiterung des Ventrikelsystems.

Der Kläger leidet heute unter einer Cerebralparese im Sinne einer schweren rechts- und beinbetonten Tetraparese. Er ist auch geistig schwer behindert. Bei ihm liegen u.a. eine statomotorische Entwicklungsstörung und eine zentrale Sehbehinderung vor.

Der Kläger hat die Ansicht vertreten, dass sowohl die Entbindung als auch die vorangegangene Behandlung der Mutter des Klägers grob fehlerhaft gewesen sei. Ohne vorherige Lungenreifediagnostik hätte in der 30. Schwangerschaftswoche keine Schnittentbindung vorgenommen werden sollen. Die Schnittentbindung sei mangels Vorliegens von Infektionsparametern nicht indiziert gewesen. Außerdem hätte er als frühgeborenes Kind umgehend in das Frühgeborenenzentrum der Beklagten verlegt, und früher intubiert werden müssen. Eine sachgerechte Risikoaufklärung der Schwangeren, so hat der Kläger ferner vorgetragen, habe ebenfalls nicht stattgefunden. Als die Oberärztin die Entscheidung zur Schnittentbindung getroffen habe, sei mit seiner Mutter nicht über die Risiken dieses Eingriffs gesprochen worden.

Die Beklagte hat behauptet, es habe eine absolute medizinische Indikation zur Schnittentbindung bestanden. Desweiteren sei auch die Aufklärung der Mutter des Klägers ordnungsgemäß und umfassend gewesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens, insbesondere der erstinstanzlichen Anträge und auch der vom LG durchgeführten Beweisaufnahme wird auf den Tatbestand des angegriffenen Urteils der 9. Zivilkammer vom 22.11.2006 Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

Das LG hat die Beklagte zur Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 200.000 EUR nebst 4 % Zinsen seit dem 17.12.1997 verurteilt und außerdem festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Ersatz für sämtliche materiellen Schäden und für immaterielle Schäden aus weiteren bisher noch nicht erkennbaren unvorhersehbaren Leiden zu leisten, und zwar für Schäden, die auf der Schn...

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