Leitsatz (amtlich)

Zumindest seit der Reform des Zivilprozesses kann der unter Widerrufsvorbehalt geschlossene Prozessvergleich sowohl ggü. dem Gericht als auch ggü. der anderen Partei widerrufen werden.

 

Verfahrensgang

LG Halle (Saale) (Urteil vom 20.04.2004; Aktenzeichen 4 O 224/03)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 30.09.2005; Aktenzeichen V ZR 275/04)

 

Tenor

Auf die Berufung des beklagten Landes wird das Urteil der Einzelrichterin der 4. Zivilkammer des LG Halle vom 20.4.2004 abgeändert:

Der Prozessvergleich der Parteien vom 9.9.2003 ist unwirksam.

Das Verfahren ist vor der 4. Zivilkammer des LG Halle fortzusetzen.

Die Revision wird zugelassen.

und beschlossen:

Der Streitwert wird auf 19.500 Euro festgesetzt.

 

Gründe

A. Wegen der dort getroffenen tatsächlichen Feststellungen wird zunächst auf die angefochtene Entscheidung des LG verwiesen.

Die Einzelrichterin der 4. Zivilkammer hat mit Urt. v. 20.4.2004 die Beendigung des Rechtsstreits durch den Prozessvergleich vom 9.9.2003 festgestellt. Hiergegen richtet sich das beklagte Land mit seiner Berufung und meint, den Vergleich wirksam widerrufen zu haben. Mangels ausdrücklicher Bestimmung des Widerrufsadressaten habe die Erklärung sowohl ggü. dem Gericht als auch ggü. der Klägerin abgegeben werden können. Es bestehe vor dem LG Halle und im Allgemeinen zudem die Übung, Vergleiche ausschließlich ggü. dem Gericht zu widerrufen.

Das beklagte Land beantragt, das Urteil des LG abzuändern und festzustellen, dass der Rechtsstreit nicht durch den Vergleich vom 9.9.2003 beendet ist.

Die Klägerin verteidigt das Urteil des LG und beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

B. I. Die Berufung des beklagten Landes ist zulässig. Bejaht das LG die Wirksamkeit des Prozessvergleichs und damit die Erledigung des Rechtsstreits, handelt es sich um ein rechtsmittelfähiges Endurteil (BGH, Urt. v. 18.9.1996 - VIII ZB 28/96, MDR 1996, 1286 = NJW 1996, 340 ff.; Zöller/Vollkommer, ZPO, 24. Aufl., § 303 Rz. 5 m.w.N.; Zöller/Stöber, ZPO, 24. Aufl., § 794 Rz. 15a m.w.N.).

II. Auch in der Sache hat das Rechtsmittel Erfolg. Die Entscheidung des LG beruht auf einer Rechtsverletzung (§ 513 Abs. 1 Alt. 1 ZPO).

1. Die Einzelrichterin hat ausgeführt, das beklagte Land habe den Vergleich nicht wirksam widerrufen, weil die Widerrufserklärung innerhalb der vereinbarten Frist nur ggü. dem Gericht erklärt worden sei, was zur Fristwahrung nicht ausgereicht habe. Als materiell-rechtlicher Vertrag sei der Vergleich mangels anderweitiger Vereinbarungen regelmäßig durch Erklärung ggü. der anderen Partei zu widerrufen. Die vom Land zitierte Entscheidung des BVerwG vom 26.1.1993 beruhe auf § 106 VwGO und gebe für das zivilrechtliche Verfahren nichts her. Eine schlüssige Bestimmung des Gerichts als Widerrufsadressat lasse sich nicht ausmachen. Dabei könne dahinstehen, ob die vom Land behauptete Übung vorliege. Diese sei jedenfalls der im Ausland ansässigen Klägerin nicht bekannt. Ihr Berliner Rechtsanwalt sei erstmalig am LG Halle tätig. Zudem müsse die Übung allgemein verbreitet sein, woran es für Deutschland fehle. Andere Anknüpfungspunkte für ein abweichendes Verständnis der Parteien bestünden nicht.

Dem vermag der Senat nicht zu folgen.

2. Entgegen der Auffassung der Einzelrichterin hat das beklagte Land den Prozessvergleich durch rechtzeitige, dem Gericht ggü. abgegebene Erklärung widerrufen.

(a) Zu Unrecht setzt sich das LG nicht mit der Entscheidung des BVerwG (BVerwG v. 26.1.1993 - 1 C 29/92, BVerwGE 92, 29 ff. = MDR 1993, 1123) auseinander. Mit dem Hinweis auf § 106 VwGO ist kein nennenswerter Unterschied zur Rechtslage im Zivilprozess aufgezeigt.

S. 1 des § 106 VwGO sieht den Vergleichsschluss zur Niederschrift des Gerichts vor. Diese Form war bis zur Reform des Zivilprozesses die einzige Möglichkeit, sich vor den Zivilgerichten zu vergleichen (§§ 794 Nr. 1, 160 Abs. 3 Nr. 1, 162 Abs. 1 ZPO). Nach § 106 S. 2 VwGO i.d.F. des 4. VwGOÄndG kann ein gerichtlicher Vergleich auch dadurch geschlossen werden, dass die Beteiligten einen in der Form eines Beschlusses ergangenen Vorschlag des Gerichts, des Vorsitzenden oder des Berichterstatters schriftlich ggü. dem Gericht annehmen. Insbesondere weil die Annahmeerklärungen hierbei an das Gericht zu richten sind, hat das BVerwG geschlussfolgert, nichts spreche dafür, dass im Gegensatz dazu ein etwaiger Widerruf des Vergleichs nicht ggü. dem Gericht, sondern ggü. dem Vergleichspartner zu erklären sei. In ergänzender Auslegung sei die Vorschrift einheitlich auszulegen, sodass alle Prozessvergleiche ggü. dem Gericht zu widerrufen seien (BVerwG v. 26.1.1993 - 1 C 29/92, BVerwGE 92, 29 ff. = MDR 1993, 1123). Die Klage ging hier am 21.5.2002 beim LG ein. Sie ist nach den, seit dem 1.1.2002 geltenden Vorschriften der ZPO zu behandeln. Mit dem Gesetz über die Reform des Zivilprozesses wurde in § 278 Abs. 6 ZPO die Möglichkeit geschaffen, einen gerichtlichen Vergleichsvorschlag durch Schriftsatz ggü. dem Gericht anzunehmen. Dies entspricht der Konstellation, die das BVerwG veranlasste, beim Fehlen a...

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