Leitsatz (amtlich)

1. Kann eine Geburt vaginal erfolgen, bedarf es keiner Einwilligung der Mutter und dementsprechend keiner speziellen Risikoaufklärung, sofern die vaginale Entbindung nicht mit besonderen Risiken verbunden ist.

2. Schwere Adipositas der Mutter steht in aller Regel der Indikation einer Schnittentbindung wegen des hohen Operationsrisikos entgegen.

3. Kann infolge unterbliebener Dokumentation nicht mehr festgestellt werden, wie eine Schulterdystokie gelöst wurde, lässt sich bei typischen gesundheitlichen Folgen zugunsten des klagenden Kindes mit Wahrscheinlichkeit auf den dann von der Behandlungsseite zu widerlegenden Behandlungsfehler schließen.

4. Wird das Eintreten einer Schultersdystokie verkannt und nur als verzögertes Heraustreten der Schulter gewertet, kann dies wie jeder andere Diagnoseirrtum nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden, wenn er nämlich aus medizinischer Sicht eines gewissenhaften Geburtshelfers nicht vertretbar erscheint. Wird dies verneint, können auch die darauf beruhenden objektiven Fehler bei der Geburtshilfe den handelnden Personen nicht vorgeworfen werden.

 

Verfahrensgang

BGH (Beschluss vom 25.11.2014; Aktenzeichen VI ZR 207/14)

LG Dessau-Roßlau (Urteil vom 17.05.2013; Aktenzeichen 4 O 450/08)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das am 17.5.2013 verkündete Urteil des LG Dessau-Roßlau wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

Dieses, wie auch das angefochtene Urteil des LG sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des auf Grund der Urteile vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

und beschlossen:

Der Streitwert für den Berufungsrechtsrechtszug wird auf 81.982,32 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Der am 8.3.1998 mit einer Länge von 53 cm, einem Kopfumfang von 38 cm und einem Gewicht von 4.420g geborene Kläger nimmt die Beklagte zu 1. als die Geburtsklinik und die Beklagte zu 2. als die geburtsbegleitende Chefärztin wegen unzureichender Aufklärung der Mutter über die Möglichkeit einer Kaiserschnittentbindung und wegen fehlerhafter Geburtshilfe auf Schadensersatz in Anspruch.

Der Entbindungstermin der damals knapp 18 Jahre alten Zeugin S. M. (geb. A.) war für den 16.3.1998 ermittelt. Die adipöse Frau stammte aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Die Schwangerschaftsvorsorge wies wesentliche Lücken auf. Es hatte nur zwei Konsultationen gegeben (4.11. u. 2.12.1997) und Ultraschalluntersuchungen vom 16.10. und 4.11.1997. Am Abend des 7.3.1998 wurde die Zeugin an den Wehenschreiber angeschlossen und es fand eine Ultraschalluntersuchung statt.

Die Geburt selbst erfolgte am 8.3.1998. Dabei erhielt die Zeugin mehrere Wehentröpfe. Die Eröffnungsperiode dauerte 10 Stunden und 30 Minuten. Es folgte eine Austreibungsperiode von 45 Minuten, wovon die Pressperiode 10 Minuten in Anspruch nahm. Der Kläger kam um 20.15 Uhr zur Welt.

Nach der Geburt des Klägers sprach die Beklagte zu 1. im Schreiben vom 31.3.1998 gegenüber der Mutter von einer vorübergehenden Beeinträchtigung des rechten Armnerven.

Mit Beschluss vom 12.9.2006 übertrug das AG Wittenberg die elterliche Sorge den Pflegepersonen des Klägers, P. Hl. und D. R.. Danach gab die Beklagte zu 1. erstmals mit Schreiben vom 9.10.2006 die medizinischen Unterlagen über die Geburt des Klägers heraus. Nachdem ein Schlichtungsantrag vom September 2007 an der Zustimmung der Beklagtenseite scheiterte, wurde im August 2008 Klage erhoben.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Geburtshilfe der Beklagten sei bereits rechtswidrig gewesen, weil die Mutter nicht über die zumindest relativ indizierte Alternative der Schnittentbindung aufgeklärt worden sei. Hierzu hat der Kläger behauptet, die vaginale Geburt sei mit erheblichen Risiken behaftet gewesen. Dazu gehörten:

  • die Adipositas per magna der Mutter,
  • die damit verbundene Gefahr, ein makrosomes Kind zur Welt zu bringen,
  • die Minderjährigkeit und soziale Herkunft der Mutter,
  • die Unsicherheiten bei der Bestimmung der potentiellen Kindsgröße,
  • die starke Gewichtszunahme der Mutter während der Schwangerschaft (von ca. 120 bis 125 kg auf ca. 140 kg),
  • der vorzeitige Blasensprung,
  • eine protrahierte Eröffnungsperiode,
  • eine sekundäre Wehenschwäche,
  • die Unmöglichkeit, die Pfeilnaht zu ertasten sowie
  • die unbekannten Beckenmaße der Mutter.

Die Beklagten hätten nicht die medizinisch notwendigen Befunde erhoben. Es habe auf Grund der Lücken des Mutterpasses eine gesteigerte Pflicht zur Untersuchung der Mutter bestanden. Es seien unterlassen worden:

  • das durchgängiges Schreiben eines CTG's,
  • wegen des vorzeitigen Blasensprungs regelmäßige Laboruntersuchungen, insbesondere Ermittlung der Entzündungswerte,
  • Gewichtsermittlung der Mutter zum Zeitpunkt der Aufnahme,
  • Ermittlung des Kindsgewichts,
  • Fetometrie,
  • Ermittlung der Beckenmaße der Mutter,
  • neben den BPD- und THQ-Werten im Ultraschall...

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