Leitsatz (amtlich)

1. In den Fällen der Haftung wegen vorsätzlicher, sittenwidriger Schädigung, im Rahmen des sogenannten Diesel-Abgasskandals, reicht die Information einer breiten Öffentlichkeit über den massenhaften Einsatz einer von dem Kraftfahrtbundesamt beanstandeten, manipulierten Software zur Abgasregelung bei Fahrzeugen des Volkswagenkonzerns, nicht für eine Kenntnis des Geschädigten im Sinne von § 199 Abs. 1 BGB aus.

2. Voraussetzung für den Beginn der Verjährung ist vielmehr die Kenntnis des Geschädigten von der individuellen Betroffenheit gerade seines Fahrzeuges, sei es über eine schriftliche oder mündliche Mitteilung des betreuenden Autohauses oder des Autoherstellers, sei es über eine Online-Abfrage des Geschädigten auf der hierfür freigeschalteten Webseite des Herstellers.

3. Bereits mit Erhebung der Musterfeststellungsklage wird die Verjährung gehemmt, auch wenn die Anmeldung des Verbrauchers erst im Folgejahr, aber innerhalb der Frist des § 608 Abs. 1 ZPO erfolgt ist.

4. Ohne besondere Anhaltspunkte ist es dem Geschädigten auch nicht als rechtsmissbräuchlich verwehrt, sich auf die einmal eingetretene Hemmung der Verjährung zu berufen, wenn er sich noch vor der mündlichen Verhandlung von dem Musterfeststellungsverfahren abgemeldet hat.

 

Verfahrensgang

LG Stendal (Urteil vom 22.11.2019; Aktenzeichen 21 O 114/19)

 

Tenor

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 30.699,73 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Juli 2019 zu zahlen, Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeuges ..., FIN: ....

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger die Kosten des außergerichtlichen Vorgehens in Höhe von 1.474,89 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Juli 2019 zu zahlen.

Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreites tragen der Kläger zu 1/5 und die Beklagte zu 4/5.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger nimmt die Beklagte auf Schadensersatz wegen eines von ihr hergestellten und in den Verkehr gebrachten Automotors in Anspruch.

Der Kläger kaufte am 25. November 2014 einen neuen PKW ... für 37.337,00 EUR. In dem Fahrzeug war ein von der Beklagten gefertiger Dieselmotor des Typs EA189 verbaut. Das Fahrzeug wurde aufgrund einer entsprechenden Typengenehmigung nach der EU-Abgasnorm 5 zugelassen. Der Umfang der Stickoxidemissionen des Fahrzeuges hängt unter anderem davon ab, in welchem Umfang Abgase aus dem Auslassbereich des Motors über ein Abgasrückführungsventil in den Ansaugtrakt des Motors zurückgeleitet werden: Je mehr Abgase zurückgeführt werden, desto weniger Stickoxide werden emittiert. Die das Abgasventil steuernde Software des Motorsteuerungsgeräts erkannte, ob sich das Fahrzeug innerhalb oder außerhalb der Bedingungen des zur Erlangung der Typgenehmigung durchgeführten Testlaufs nach dem NEFZ (Neuer Europäischer Fahrzyklus) befindet. Befand sich das Fahrzeug außerhalb der Bedingungen des NEFZ, wurden relativ weniger Abgase in den Ansaugtrakt des Motors zurückgeleitet, als wenn sich das Fahrzeug innerhalb der Bedingungen des NEFZ befand.

Nachdem ab September 2015 die Verwendung der Software mit den zwei Betriebsmodi zur Motorsteuerung bekannt geworden war, verpflichtete das Kraftfahrtbundesamt die Beklagte mit Bescheid vom 14. Oktober 2015, bei allen betroffenen Fahrzeugen mit Dieselmotoren vom Typ EA 189 die aus seiner Sicht unzulässige Abschalteinrichtung zu entfernen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, mit denen die Vorschriftsgemäßheit wiederhergestellt werden würde. Die Beklagte entwickelte sodann ein vom Kraftfahrtbundesamt freigegebenes Softwareupdate, mit dem das Fahrzeug der Klägers nachfolgend umgerüstet wurde.

Mit anwaltlichem Schreiben vom 17. April 2019 forderte der Kläger die Beklagte unter Fristsetzung bis zum 24. April 2019 zur Anerkennung ihrer Schadensersatzpflicht auf. Dieser Aufforderung kam die Beklagte nicht nach. Am 16. Mai 2019 meldete sich der Kläger zu dem Musterfeststellungsverfahren 4 MK1/18 vor dem Oberlandesgericht Braunschweig an, wo er sich nach seiner von der Beklagten mit Nichtwissen bestrittenen Behauptung am 10. Juni 2019 wieder abmeldete. Unter dem 12. Juni 2019 hat er Klage bei dem Landgericht Stendal eingereicht, die am 1. Juli 2019 der Beklagten zugestellt worden ist.

Wegen der weitergehenden Einzelheiten zum Sach- und Streitstand erster Instanz, einschließlich der erstinstanzlichen Sachanträge der Parteien, nimmt der Senat gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil des Landgerichts Bezug.

Das Landgericht hat mit dem am 22. November 2019 verkündeten Urteil die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wese...

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