Leitsatz (amtlich)

1. Die Vorschrift des § 111 Abs. 1 GWB ist dahin auszulegen, dass der Anspruch auf Akteneinsicht von vornherein auf diejenigen Aktenbestandteile beschränkt ist, deren Inhalt ggf. dem entscheidungserheblichen Prozesss-Stoff zuzuordnen ist. Die Beschränkung des Verfahrensstreitstoffes wirkt sich unmittelbar auf den Umfang des prozessualen Akteneinsichtsrechts aus.

2. Steht dem Anspruch eines Verfahrensbeteiligten auf Akteneinsicht nach § 111 Abs. 1 GWB ein Anspruch des von der Akteneinsicht betroffenen Bieters auf Geheimhaltung des Inhalts bzw. der Erläuterungen seines Angebots nach § 111 Abs. 2 GWB entgegen, so ist eine Abwägung entsprechend § 72 Abs. 2 S. 4 GWB vorzunehmen zwischen dem Interesse des Antragstellers an effektivem Individualrechtsschutz und dem gleichgerichteten Interesse der Allgemeinheit an der Einhaltung des materiellen Vergaberechts einerseits und dem Geheimhaltungsinteresse des von der Akteneinsicht Betroffenen andererseits.

3. Im Rahmen dieser Abwägung ist auch zu berücksichtigen, ob ein effektiver Rechtsschutz des Akteneinsicht Begehrenden durch andere, das Geheimhaltungsinteresse des Betroffenen ganz oder zumindest teilweise wahrende Art und Weise gewährleistet werden kann (hier: Mitteilung einzelner Inhalte der Eignungsunterlagen und des Vergabevermerks in anonymisierter Form).

 

Verfahrensgang

1. Vergabekammer beim Landesverwaltungsamt LSA (Aktenzeichen 1 VK LSA 57/10)

 

Tenor

Der Antrag der Antragstellerin auf Einsicht in Teile der Original-Angebotsunterlagen der Beigeladenen wird zurückgewiesen.

Zugleich werden im Rahmen dieser Entscheidung die aus Sicht des erkennenden Senats maßgeblichen tatsächlichen Umstände in anonymisierter Form bekannt gegeben.

 

Gründe

Das Gesuch der Antragstellerin auf Einsicht in Teile der Angebotsunterlagen der Beigeladenen ist zulässig, es führt jedoch in der Sache unter Abwägung mit den bereits in den Angebotsunterlagen geltend gemachten Geheimhaltungsinteressen der Beigeladenen lediglich zu einer eingeschränkten Information.

1. Für die Verhandlung und Entscheidung im Nachprüfungsverfahren ist nach § 131 Abs. 8 GWB das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in seiner seit dem 24.4.2009 geltenden (neuen) Fassung und nach § 23 VgV 2010 die Vergabeordnung für Leistungen, Teil A, in ihrer Fassung von 2006 anzuwenden. Das verfahrensgegenständliche Vergabeverfahren begann nach dem 23.4.2009, jedoch vor dem 11.6.2010.

2. Die Entscheidung des Senats über das Akteneinsichtsgesuch der Antragstellerin ergeht auf der Grundlage von §§ 120 Abs. 2 i.V.m. 111 Abs. 1 und 2 sowie 72 Abs. 2 S. 4 GWB.

a) Nach ganz überwiegender Auffassung in der Literatur und inzwischen einhelliger Auffassung in der Rechtsprechung, auch derjenigen des erkennenden Senats, ist die Vorschrift des § 111 Abs. 1 GWB dahin auzulegen, dass der Anspruch auf Akteneinsicht von vornherein auf diejenigen Aktenbestandteile beschränkt ist, deren Inhalt ggf. dem entscheidungserheblichen Sachverhalt zuzuordnen ist. Im Nachprüfungsverfahren hat das Akteneinsichtsrecht eine dienende, zum Verfahrensgegenstand akzessorische Funktion. Es soll den Verfahrensbeteiligten die Wahrnehmung ihrer Verfahrensrechte ermöglichen und insbesondere zur Gewährleistung eines umfassenden rechtlichen Gehörs zu allen entscheidungserheblichen Umständen beitragen. Da der Gegenstand des Nachprüfungsverfahrens beschränkt ist durch die vom Antragsteller erhobenen konkreten Rügen und allenfalls erweitert wird durch die von einem beigeladenen Bieter erhobenen Rügen bzw. die von der Nachprüfungsinstanz von Amts wegen aufgegriffenen vermeintlichen Vergabeverstöße, wirkt sich die Beschränkung des Verfahrensstreitstoffes unmittelbar auf den Umfang des prozessualen Akteneinsichtsrechts aus. Durch ein solches Normverständnis wird auch dem im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren im Besonderen Maße bestehenden Beschleunigungsbedarf Rechnung getragen, weil sich auch die nachfolgende Prüfung von Versagungsgründen i.S.v. § 111 Abs. 2 GWB auf die entscheidungserheblichen Aktenbestandteile beschränkt. Die Interessen der Verfahrensbeteiligten sind dadurch gewahrt, dass nicht zugänglich gemachte Akteninhalte der Entscheidung der Nachprüfungsinstanz nicht zugrunde gelegt werden dürfen und dass jederzeit vor Abschluss des Nachprüfungsverfahrens die Möglichkeit besteht, bei einer Änderung der Bewertung der Entscheidungserheblichkeit bestimmter Unterlagen durch die Nachprüfungsinstanz die Akteneinsicht von Amts wegen zu gewähren.

b) Dem Anspruch eines Verfahrensbeteiligten auf Akteneinsicht kann nach § 111 Abs. 2 GWB ein Anspruch auf Geheimhaltung einzelner Aktenbestandteile entgegen stehen. Liegt eine Geheimhaltungsbedürftigkeit bestimmter Daten oder Unterlagen vor, in die der Antragsteller Einsicht begehrt, so ist eine Abwägung entsprechend § 72 Abs. 2 S. 4 GWB vorzunehmen zwischen dem Interesse des Antragstellers an effektivem Individualrechtsschutz und dem gleichgerichteten Interesse der Allgemeinheit an der Einhaltung des materiellen Vergaber...

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