Leitsatz (amtlich)
1. Der Streitwert der Pflichtteilsstufenklage bestimmt sich nach den realistischen wirtschaftlichen Erwartungen des Klägers zu Beginn des Verfahrens (Anschluss an BGH, XII ZB 219/13, NZFam 2014, 787).
2. Für die Bemessung der realistischen wirtschaftlichen Erwartungen des Klägers kann auf die Erkenntnisse bei Beendigung des Verfahrens abzustellen sein, wenn die zu Beginn des Verfahrens mitgeteilten Erwartungen ersichtlich unzutreffend waren.
Normenkette
GKG § 44; RVG § 32; ZPO § 254
Verfahrensgang
LG Traunstein (Aktenzeichen 7 O 627/20) |
Tenor
Auf die Beschwerde vom 31.01.2023 wird der Beschluss des Landgerichts Traunstein vom 25.01.2023 insoweit abgeändert, als der Streitwert des Verfahrens vor dem Landgericht auf bis zu 230.000,00 EUR festgesetzt wird.
Gründe
I. Die Parteien streiten über erbrechtliche Ansprüche.
Der Kläger ist der Sohn des am xx.xx.2018 verstorbenen Erblassers, die Beklagte war die Ehefrau des Erblassers.
Der Erblasser hatte am xx.xx.2018 ein notarielles Testament errichtet, in dem er die Beklagte als Alleinerbin eingesetzt hatte.
Mit seiner am xx.xx.2020 erhobenen Klage nahm der Kläger die Beklagte im Wege der Pflichtteilsstufenklage auf der ersten Stufe zunächst auf Auskunft in Anspruch. Seine Pflichtteilsquote bezifferte der Kläger auf 1/16, den Wert seines Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsanspruchs auf mindestens 10.000,00 EUR (Bl. 6 der Klageschrift).
Am 04.09.2020 erließ das Landgericht ein Teil-Urteil, in dem die Beklagte zur Vorlage eines Verkehrswertgutachtens hinsichtlich einzelner, zum Nachlass gehörender Gegenstände verurteilt wurde. Die dagegen eingelegte Berufung nahm die Beklagte nach Hinweis des Senats vom 27.01.2021 mit Schriftsatz vom 18.02.2021 zurück.
Mit Schriftsatz des Klägers vom 04.01.2023 erklärte der Kläger den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt und teilte mit, dass die Beklagte auf die Pflichtteilsansprüche des Klägers 265.000,00 EUR gezahlt habe.
Das Landgericht setzte mit Beschluss vom 25.01.2023 den Streitwert des Verfahrens auf 10.000,00 EUR fest und erlegte der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits auf. Hinsichtlich des Streitwertes der Stufenklage stellte es darauf ab, dass auf die Vorstellungen des Klägers zu Beginn der Instanz abzustellen sei, auch wenn diese nachträglich übertroffen würden. Der dagegen eingelegten Streitwertbeschwerde vom 31.01.2023 des Prozessbevollmächtigen der Beklagten half es mit Beschluss vom 22.03.2023 nicht ab und legte die Akten dem Senat zur Entscheidung vor.
Der Einzelrichter hat das Verfahren mit Beschluss vom 08.08.2022 auf den Senat übertragen.
II. Die Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
1. Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere kann auch der Prozessbevollmächtigte der Beklagten die Beschwerde im eigenen Namen einlegen, weil sich seine Gebühren nach dem für die Gerichtskosten maßgeblichen Streitwert richten (§ 32 Abs. 1 RVG), so dass der Prozessbevollmächtigte auch dann beschwert ist, wenn der Streitwert zu gering festgesetzt wurde.
2. Die Beschwerde ist auch in der Sache erfolgreich. Zu Unrecht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass der nach § 44 GKG festzusetzende Streitwert lediglich auf 10.000,00 EUR festzusetzen wäre.
a) Allerdings ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten, wie der Streitwert bei der sogenannten steckengebliebenen Stufenklage, d.h. einer Stufenklage, die vor einer Entscheidung über die Zahlungsstufe endet, festzusetzen ist. Der BGH geht davon aus, dass maßgebliche Schätzungsgrundlage für die Festsetzung des Verfahrenswertes die "realistischen wirtschaftlichen Erwartungen, die der Antragsteller zu Beginn des Verfahrens mit dem unbezifferten Antrag in der Leistungsstufe verknüpft", sind (BGH, Beschluss vom 02.07.2014, XII ZB 219/13; NZFam 2014, 787; OLG Celle, 6 W 77/02, BeckRS 2002, 30286796; OLG Koblenz, 10 W 171/15, NJW-RR 2015, 832; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, 44. Auflage 2023, § 3 Rn. 141 m.w.N.; Zöller/Herget, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 3 ZPO Rn. 16.160). Nach anderer Ansicht (KG, 16 WF 3196/97, NJW-RR 1998, 1615) sollen hingegen die Erkenntnisse am Ende des Rechtszugs maßgeblich sein, selbst wenn der Anspruch dann nicht mehr beziffert wurde.
b) Im vorliegenden Fall kann dahinstehen, ob die herrschende Meinung, die sich überwiegend auf familienrechtliche Entscheidungen bezieht, ohne Weiteres auf die Pflichtteilsstufenklage übertragen werden kann. Denn während in familiengerichtlichen Verfahren, in denen um Unterhalts- und Zugewinnausgleichsansprüche gestritten wird, die ehelichen Lebensverhältnisse regelmäßig eine realistische Schätzung der Zahlungsansprüche ermöglichen dürften, ist dies bei Pflichtteilsansprüchen nicht ohne Weiteres der Fall.
aa) Erbrechtliche Stufenklagen weisen oft die Besonderheit auf, dass - je nach dem Verhältnis des Erblassers zum Pflichtteilsberechtigten - dieser keinerlei Kenntnisse über die Zusammensetzung des Nachlasses haben muss. Bestand beispielsweise über Jahre kein persönlicher Kontakt zwischen Pflichtteilsberechtig...