Verfahrensgang

LG Aachen (Aktenzeichen 4 O 126/18)

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Aachen vom 14.06.2019 - 4 O 126/18 - wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Beklagte.

Das vorliegende Urteil und die angefochtene Entscheidung sind vorläufig vollstreckbar. Dem Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Der am xx.xx.2006 geborene Kläger wurde bei einem Verkehrsunfall am 21.07.2015 schwer verletzt, als sein Vater schuldhaft die Gewalt über das bei dem Beklagten haftpflichtversicherte Fahrzeug verlor, welches mit einem LKW kollidierte. Bei dem Unfallereignis zog sich der Kläger unter anderem ein schweres Schädelhirntrauma zu. Er leidet seitdem unter einer spastischen Tetraparese, epileptischen Anfällen und ausgeprägten neuropsychologischen Defiziten. Er ist in seiner Entwicklung verzögert und bedarf vielfältiger Hilfestellung im Alltag.

Der Kläger ist über die freiwillige gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung seines Vaters bei der A (im Folgenden: Pflegekasse) versichert. Die Kasse zahlt an ihn ein monatliches Pflegegeld in Höhe von 728 EUR (Pflegegrad 4).

Die Einstandspflicht des Beklagten für die Folgen des Verkehrsunfalls ist zwischen den Parteien im Grundsatz unstreitig. Anlass für die Klage ist ein Schreiben des Beklagten vom 23.07.2018 an die Prozessbevollmächtigten des Klägers, in dem er mitteilte, dass er bei Zahlungen auf Pflege- und Betreuungskosten die Leistungen der Pflegegeldkasse in Abzug bringen werde.

Der Kläger hat unter Verweis auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 17.10.2017 (VI ZR 423/16) die Auffassung vertreten, der Beklagte dürfe die Leistungen der Pflegekasse nicht in Abzug bringen.

Der Kläger hat beantragt,

1. festzustellen, dass der Beklagte nicht berechtigt ist, das von der Pflegekasse an den Kläger gezahlte Pflegegeld bei den Pflege- und Betreuungskosten in Abzug zu bringen;

2. den Beklagten zu verurteilen, ihn von den außergerichtlich angefallenen Anwaltskosten gegenüber der Anwaltskanzlei B & Coll. i.H.v. 1242,84 EUR freizustellen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat die Auffassung vertreten, dass das von der Pflegekasse gezahlte Pflegegeld anzurechnen sei. Die Vorschrift des § 116 Abs. 6 SGB X, nach der ein Forderungsübergang auf den Versicherungsträger in Höhe der erbrachten Sozialleistungen bei nicht vorsätzlichen Schädigungen durch Familienangehörige, die im Zeitpunkt des Schadensereignisses mit dem Geschädigten in häuslicher Gemeinschaft lebten, ausgeschlossen sei, sei verfassungswidrig. Bei privat Versicherten sehe die entsprechende Vorschrift des § 86 Abs. 3 VVG keinen Ausschluss des Forderungsübergangs vor. Es liege damit eine Ungleichbehandlung von privat und gesetzlich Versicherten vor. Die Ungleichbehandlung verstoße gegen Art. 3 GG, denn sie sei sachlich nicht gerechtfertigt.

Wegen der Einzelheiten des streitigen Vorbringens der Parteien und der tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil (Bl. 107 ff d.A.) Bezug genommen.

Das Landgericht hat der Klage mit Urteil vom 14.06.2019 stattgegeben. Die Klage sei zulässig und begründet. Der Beklagte sei nicht berechtigt, das von der Pflegekasse an den Kläger gezahlte Pflegegeld bei den von ihm erstatteten Pflege- und Betreuungskosten in Abzug zu bringen. Der Anspruch des Klägers auf Schadensersatz sei auch in Höhe des durch die Pflegekasse monatlich gezahlten Pflegegeldes wegen § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X bei ihm verblieben. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gelte der Ausschluss des Forderungsübergangs auch für den Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer, da dieser akzessorisch zum Haftungsanspruch gegen den Schädiger sei. Dass der Geschädigte eine "doppelte Entschädigung" erhalte, sei infolge des Familienprivilegs hinzunehmen. Eine Übertragung des Regelungsinhaltes des § 86 Abs. 3 VVG auf § 116 Abs. 6 SGB X sei in Anbetracht des eindeutigen Wortlauts dieser Norm ausgeschlossen. Eine Umwandlung des Familienprivilegs aus § 116 Abs. 6 SGB X von einem Anspruchsübergangs- in einen Regressausschluss im Wege der Auslegung würde eine nicht mehr zulässige Rechtsfortbildung darstellen. Eine entsprechende Anpassung sei Aufgabe des Gesetzgebers. Zudem liege keine Regelungslücke vor. Der Gesetzgeber habe in Kenntnis der Relevanz von einer Anpassung des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X abgesehen. Verfassungsrechtlich sei die sich hieraus ergebende Möglichkeit der doppelten Entschädigung des gesetzlich Versicherten und die infolgedessen eintretende Bevorzugung gegenüber privat Versicherten hinzunehmen. Eine gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßende Ungleichbehandlung von privat versicherten Geschädigten gegenüber gesetzl...

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