Entscheidungsstichwort (Thema)

Arzthaftung: Verjährungsbeginn bei Überlassung unvollständiger Patientenakte; Ende der Verjährungshemmung bei "Einschlafen" der Verhandlungen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Schließen nachgereichte Teile der Behandlungsunterlagen keine für die Klageerhebung relevante Informationslücke des Patienten, kann sich die für den Verjährungsbeginn maßgebliche Kenntnis bereits mit Zugang der unvollständigen Patientenakte einstellen.

2. Das "Einschlafenlassen" beendet die durch Verhandlungen ausgelöste Verjährungshemmung nur, wenn der Gläubiger den Zeitpunkt versäumt, zu dem er spätestens auf eine Äußerung des Schuldners hätte antworten müssen (Abweichung von BGH X ZR 101/06 und BGH VII ZR 285/12).

 

Normenkette

BGB §§ 195, 199, 203, 214, 630a, 630f, 630g, 823, 831

 

Verfahrensgang

LG Koblenz (Urteil vom 11.03.2015; Aktenzeichen 10 O 103/10)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 08.11.2016; Aktenzeichen VI ZR 594/15)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten zu 1., zu 2. und zu 3. gegen das Urteil der 10. Zivilkammer des LG Koblenz vom 11.03.2015 wird zurückgewiesen. Damit verbleibt es bei deren Verurteilung; die Klageabweisung in Bezug auf die Beklagten zu 4. und zu 5. wird nicht berührt.

2. Die erstinstanzlichen Kosten verteilen sich wie folgt: Von den Gerichtskosten und den außergerichtlichen Kosten des Klägers fallen der Beklagten zu 1., zu 2. und zu 3. 3/5 als Gesamtschuldnern zur Last. 2/5 der Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 4. und zu 5. werden dem Kläger auferlegt.

Die zweitinstanzlichen Kosten treffen die Beklagten zu 1., zu 2. und zu 3. als Gesamtschuldner.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreck- baren Betrages abwenden, wenn nicht die Gegenseite zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckendes Betrages stellt.

4. Die Revision wird zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger wurde am 22.11.2003 um 13.12 Uhr im Krankenhaus der Erstbeklagten geboren. Dies geschah unter der Leitung der dort als gynäkologische Chefärztin tätigen Beklagten zu 2., die sich seit 12.55 Uhr vor Ort befand, nachdem sie von der Beklagten zu 3. als diensthabender Stationsärztin zugezogen worden war. Zuvor hatte sich die Beklagte zu 4. um die Mutter des Klägers gekümmert. Sie ist ebenso wie die Beklagte zu 5. Hebamme.

Es war zu erwarten, dass der Kläger ein großes Kind sein würde; darauf deutete ein Ultraschallbefund vom August 2003 hin. Außerdem war seine -stark übergewichtige- Mutter 1999 von einem 4500g schweren Sohn entbunden worden. Darüber hinaus wurden am 20.11.2003, einen Tag nach ihrer stationären Aufnahme im Krankenhaus der Beklagten zu 1., bei einer sonografischen Untersuchung überdurchschnittlich hohe fetobiometrische Werte festgestellt.

Als es am 22.11.2003 um 8.00 Uhr bei einer Muttermundweite von 6 cm zu einem Blasensprung kam und der fetale Kopf über dem Beckeneingang stand, wurde die Mutter des Klägers in den Kreißsaal verbracht. Um 12.20 Uhr war der Muttermund vollständig eröffnet, und der Kopf war, wenn man der Dokumentation der Beklagten zu 1. folgt, in die Beckenmitte gelangt. Eine halbe Stunde später war die fetale Herzfrequenz auffällig abgefallen. Die darauf herbeigerufene Beklagte zu 2. traf, da der Kopf nicht vorangekommen war, die Entscheidung zu einer vaginal-operativen Entbindung.

Ein Pressversuch mit Kristellerhilfe brachte den Kopf tiefer, so dass die Anlage einer Geburtszange versucht wurde. Darunter wich der Kopf über den Beckeneingang hinaus zurück. Nunmehr applizierte man eine Vakuumglocke und nahm eine medio-laterale Episiotomie vor. Mit einer wehensynchronen Traktion gelang es, den Kopf über den Damm zu führen. Eine Rotation des Oberkörpers blieb indessen aus. Die vordere, linke Schulter steckte fest. Unter einem McRoberts-Manöver war es schließlich möglich, sie zu befreien.

Der Kläger kam aspyhiktisch und mit einem schlechten Apgar zur Welt. Das Geburtsgewicht betrug 5100g. Der linke Arm war mit Hämatomen besetzt und schlaff. Man diagnostizierte eine obere und untere Plexuslähmung sowie eine Clavikulafraktur.

Infolge dessen sieht sich der Kläger dauerhaft geschädigt. Die linke Schulter steht hoch und der linke Arm ist leicht verkürzt. In seiner - namentlich aktiven - Beweglichkeit ist er eingeschränkt und hat deutliche muskuläre Defizite, so dass die Gebrauchsfähigkeit trotz fortgesetzter physiotherapeutischer Maßnahmen nur bedingt gegeben ist. Dafür hat der Kläger die Beklagten gesamtschuldnerisch verantwortlich gemacht und deshalb deren Verurteilung zur Zahlung eines mit mindestens 40.000 EUR zu beziffernden Schmerzensgelds sowie zum Ausgleich vorgerichtlicher Anwaltskosten von 4.268,71 EUR begehrt. Außerdem hat er die Feststellung deren weiter gehender Haftung beantragt.

Er hat ihnen in erster Linie vorgeworfen, die von vornherein evidenten Risikofaktoren für die peripartal aufgetretene Schulterdystokie missachtet und deshalb auf die nach Lage der Ding...

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