Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufklärungspflicht eines Zahnarztes über seltenes Risiko; hypothetische Einwilligung des Patienten bei gleichartigen, aber folgenlosen Vorbehandlungen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Über das Risiko einer dauerhaften Schädigung des nervus lingualis durch eine Leitungsanästhesie zur Schmerzausschaltung muss der Zahnarzt den Patienten aufklären, weil eine erheblich beeinträchtigende Folge droht.

2. Hat der Patient früheren, komplikationslos verlaufenen Betäubungen zugestimmt, kann daraus eine hypothetische Einwilligung in den fehlgeschlagenen Eingriff nur hergeleitet werden, wenn den Vorbehandlungen die erforderliche Risikoaufklärung vorausgegangen ist.

 

Verfahrensgang

LG Koblenz (Urteil vom 29.11.2002; Aktenzeichen 10 O 265/02)

 

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der 10. Zivilkammer des LG Koblenz vom 29.11.2002 geändert und wie folgt neu gefasst:

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld von 6.000 Euro nebst 5 Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 17.7.2002 zu zahlen.

2. Die in zweiter Instanz erhobene Feststellungsklage wird abgewiesen.

3. Die erstinstanzlichen Kosten hat der Beklagte zu tragen.

Von den Kosten des Berufungsverfahrens fallen dem Kläger 1/7 und dem Beklagten 6/7 zur Last.

4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

5. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger nimmt den beklagten Zahnarzt auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von mindestens 6.000 Euro in Anspruch. Daneben begehrt er erstmals in zweiter Instanz die Feststellung, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche materiellen und immateriellen Zukunftsschäden aus einer zahnärztlichen Behandlung vom 23.8.1999 zu ersetzen.

An diesem Tag wollte der Beklagte beim Kläger die Füllung eines Backenzahnes erneuern. In Vorbereitung des Eingriffs sollte dem Kläger ein Betäubungsmittel gespritzt werden. Eine Aufklärung über die Risiken einer Leitungsanästhesie unterblieb. Beim Einstich oder der anschließenden Applikation des Betäubungsmittels kam es zu einer Beeinträchtigung des nervus lingualis. In der Folgezeit stellten sich beim Kläger persistierende Beschwerden und Ausfälle im Bereich der Injektionsstelle und der rechten Zungenhälfte ein.

Dazu hat der Kläger vorgetragen, der Beklagte habe durch den Einstich mit der Spritze den nervus lingualis dauerhaft geschädigt. Bei Aufklärung über dieses Risiko hätte er seine Einwilligung in die Injektion verweigert.

Der Beklagte hat bestritten, dass die Beschwerden des Klägers auf die Injektion zurückzuführen seien. Sehe man das anders, sei eine Aufklärung wegen des äußerst geringen Risikos einer dauerhaften Nervenschädigung entbehrlich gewesen. Im Übrigen müsse von einer hypothetischen Einwilligung des Patienten ausgegangen werden.

Das LG hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, einer Aufklärung habe es nicht bedurft. Beim Kläger habe sich ein extrem seltenes Risiko verwirklicht; eine Aufklärung sei daher entbehrlich gewesen. Dazu hat das LG auf die in VersR 1999, 1500 abgedruckte Entscheidung des OLG Stuttgart verwiesen.

Mit der Berufung wiederholt der Kläger die Rüge unterbliebener Aufklärung. Auch über seltene Risiken müsse ein Arzt den Patienten aufklären. Dies gelte erst Recht, wenn dauerhaft verbleibende Beeinträchtigungen zu befürchten seien. In Kenntnis des Risikos hätte er die Füllung des Backenzahns ohne Anästhesie erneuern lassen.

Der Beklagte trägt vor, die vom Kläger behaupteten Beeinträchtigungen und Beschwerden lägen nicht vor, jedenfalls hätten sie ihrer Ursache nicht in der Leitungsanästhesie. Zu Recht habe das LG angesichts des geringen Risikos eine Aufklärung für entbehrlich gehalten. Auch bei früheren Behandlungen sei dem Kläger eine Leitungsanästhesie verabreicht worden. Das indiziere seine hypothetische Einwilligung. Hinsichtlich der in zweiter Instanz erhobenen Feststellungsklage erhebt der Beklagte die Verjährungseinrede.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Neurologen Dr. L. nebst Zusatzgutachten des Neurophysiologen Privatdozent Dr. S. Auf die Ausführungen der Gutachter wird verwiesen (Blatt 122-163 GA). Zur Frage der hypothetischen Einwilligung ist der Kläger vom Senat angehört worden; auf die Sitzungsniederschrift vom 29.4.2004 wird Bezug genommen.

II. Die zulässige Berufung hat Erfolg, soweit der Kläger ein Schmerzensgeld begehrt (1.). Die in zweiter Instanz erhobene Feststellungsklage musste dagegen abgewiesen werden (2.).

1. Zur Zahlung eines Schmerzensgeldes ist der Beklagte nach §§ 823 Abs. 1, 847 BGB verpflichtet. Der zahnärztliche Eingriff vom 23.8.1999 hat zu einer fortbestehenden Körperschädigung des Klägers geführt. Da die gebotene Aufklärung über die Risiken der Leitungsanästhesie unterblieben ist, war die ärztliche Maßnahme nicht von einer Einwilligung des Klägers gedeckt und daher rechtswidrig. Der eingetretene Schaden rechtfertigt ein Schmerzensgeld von 6.000 Euro

Im Einzelnen:

Der Einstich oder die Leitungsanästhesie, die der Beklagte in Vorbereitung der beab...

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