Entscheidungsstichwort (Thema)

zur Erstattung der Reisekosten eines auswärtigen Verteidigers. Kostenrecht. Strafrecht. Zu den Voraussetzungen der Erstattung der Reisekosten eines auswärtigen Verteidigers nach rechtskräftigem Freispruch des Angeklagten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Im Beschwerdeverfahren der Kostenfestsetzung (§ 464 b S. 3 StPO i.V.m. § 104 Abs. 3 Satz 1 ZPO) ist die Geltendmachung einer weiteren Gebührenforderung, über die eine anfechtbare Entscheidung des Rechtspflegers noch nicht vorliegt, grundsätzlich nicht zulässig. Eine Ausnahme hiervon ist aus Gründen der Prozessökonomie jedoch gerechtfertigt, wenn die Geldmachung der weiteren Gebührenforderung im Beschwerdeverfahren sachdienlich ist.

2. Die Hinzuziehung eines von dem rechtskräftig freigesprochenen Angeklagten gewählten Verteidigers, der nicht im Bezirk des Prozessgerichts niedergelassen ist und am Ort des Prozessgerichts auch nicht wohnt, ist stets als zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig im Sinne von § 464 a Abs. 2 Nr. 2 StPO, § 91 Abs. 2 Satz 1 ZPO anzusehen, wenn sich der Angeklagte einem schwerwiegenden Tatvorwurf gegenübersah, der massiv in seine bürgerliche, berufliche und wirtschaftliche Existenz eingreifen konnte.

3. Kommt es in einem solchen Fall zu einem Verteidigerwechsel, sind die dem rechtskräftig freigesprochenen Angeklagten zu erstattenden Reisekosten des neuen Verteidigers der Höhe nach nicht auf die fiktiven Kosten begrenzt, die in der Person des zunächst tätigen Verteidigers angefallen wären; dies gilt unabhängig davon, ob der Verteidigerwechsel im Sinne von § 464 Abs. 2 Nr. 2 StPO, 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO notwendig war.

 

Normenkette

ZPO § 91 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LG Waldshut-Tiengen (Entscheidung vom 12.05.2020; Aktenzeichen 1 KLs 22 Js 9184/17)

 

Tenor

  1. Auf die sofortige Beschwerde von Rechtsanwalt R. wird der Kostenfestsetzungsbeschluss des Landgerichts W. vom 12. Mai 2020 dahingehend abgeändert, dass weitere 753,27 € als aus der Staatskasse zu erstattende notwendige Auslagen des früheren Angeklagten festgesetzt werden.
  2. Die weitergehende Beschwerde wird als unbegründet verworfen.
  3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
 

Gründe

Mit Urteil vom 28. Januar 2020, rechtskräftig seit 26. Februar 2020, sprach das Landgericht Waldshut-Tiengen A. vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in elf Fällen, davon in neun Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern in drei Fällen und des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung, frei. Die notwendigen Auslagen des Freigesprochenen wurden der Staatskasse auferlegt.

Dem früheren Angeklagten war im Ermittlungsverfahren - auf seinen Wunsch - Rechtsanwalt B. aus S. als notwendiger Verteidiger bestellt worden. Nachdem am 10. Oktober 2018 Anklage gegen ihn erhoben worden war, hatte er am 31. Oktober 2018 Rechtsanwältin P. aus M. mit seiner Verteidigung beauftragt. Spätestens am 11. Januar 2019 hatte er Rechtsanwalt R. aus W. als weiteren Verteidiger hinzugezogen. Die Pflichtverteidigerbestellung von Rechtsanwalt B. war am 28. Januar 2019 gemäß § 143 StPO a.F. zurückgenommen worden. Sowohl Rechtsanwältin P. als auch Rechtsanwalt R., die die Verteidigung gemeinsam geführt hatten, hatten an der viertägigen Hauptverhandlung sowie an einer vom Landgericht durchgeführten kommissarischen Zeugenvernehmung teilgenommen.

Mit Schriftsatz vom 13. Februar 2020 beantrage Rechtsanwalt R. beim Landgericht unter Vorlage einer Abtretungserklärung des früheren Angeklagten die Festsetzung der diesem durch die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts entstandenen Auslagen.

Mit Beschluss vom 12. Mai 2020 hat die Rechtspflegerin die aus der Staatskasse zu erstattenden notwendigen Auslagen des früheren Angeklagten - abgesehen von den geltend gemachten Reisekosten - antragsgemäß festgesetzt. Soweit die Erstattung der Fahrt- und Übernachtungskosten von Rechtsanwalt R. begehrt wurde, hat die Rechtspflegerin lediglich fiktive Reisekosten eines in S. ansässigen Rechtsanwalts in Ansatz gebracht, da die Hinzuziehung eines nicht im Bezirk des Prozessgerichts niedergelassenen oder wohnhaften Rechtsanwalts nicht erforderlich gewesen sei.

Gegen den ihm am 15. Mai 2020 zugestellten Beschluss wendet sich Rechtsanwalt R. mit seiner am 29. Mai 2020 beim Landgericht eingegangenen sofortigen Beschwerde, mit der er die Festsetzung seiner Reisekosten begehrt. Hilfsweise hat er beantragt, statt seiner Reisekosten die - auf 840,- € bezifferten - Fahrtkosten festzusetzen, die Rechtsanwältin P. - unter Benutzung ihres eigenen Pkw - aufgrund ihrer Teilnahme an der Hauptverhandlung und an der kommissarischen Zeugenvernehmung entstanden sind.

II.

Die sofortige Beschwerde, über die der Senat nach § 122 Abs. 1 GVG in der Besetzung mit drei Richtern einschließlich der Vorsitzenden zu entscheiden hat (Senat, Beschluss vom 20...

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