Leitsatz (amtlich)

1. Eine unterbrochene Hauptverhandlung gegen einen bereits zur Sache vernommenen Angeklagten kann nur dann ohne ihn fortgesetzt werden, wenn er eigenmächtig der Fortsetzung der Hauptverhandlung fernbleibt. Eigenmächtig in diesem Sinne handelt der Angeklagte, der ohne Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe wissentlich seiner Anwesenheitspflicht nicht genügt.

2. Die Eigenmächtigkeit muss dem Angeklagten auch noch im Zeitpunkt der Revisionsentscheidung nachgewiesen sein, was vom Revisionsgericht auf der Grundlage des entsprechenden Revisionsvorbringens selbstständig und grundsätzlich ohne Bindung an die Feststellungen des Tatrichters im Freibeweis nachzuprüfen ist. Nur wenn eine weitere Klärung nicht möglich ist, legt es seiner Entscheidung die nicht zu erschütternde Überzeugung des Tatrichters zugrunde. Bleiben die tatsächlichen Voraussetzungen der Eigenmächtigkeit des Angeklagten zweifelhaft, so darf nicht nach § 231 Abs. 2 StPO verfahren und die Verhandlung nicht in Abwesenheit des Angeklagten zu Ende geführt werden.

3. Ein ärztliches Attest, welches keine konkreten Angaben zum gesundheitlichen Zustand eines Angeklagten und seinen gesundheitlichen Einschränkungen enthält, mag zwar nicht geeignet sein, den Nachweis für seine Verhandlungsunfähigkeit zu erbringen. Es kann aber erhebliche - der Annahme von Eigenmächtigkeit entgegenstehende - Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten begründen, denen das Gericht nachzugehen hat. Es obliegt nicht dem Angeklagten glaubhaft zu machen, dass sein Ausbleiben nicht auf Eigenmächtigkeit beruht.

 

Normenkette

StPO § 231 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LG Baden-Baden (Entscheidung vom 27.09.2019; Aktenzeichen 5 Ns 307 Js 3540/17)

 

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts - 5. Strafkammer (Kleine Strafkammer) - Baden-Baden vom 27. September 2019 (5 Ns 307 Js 3540/17) mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Baden-Baden zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht Baden-Baden verurteilte den Angeklagten am 02.07.2018 wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung zu einer Gesamtgeldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 25 €. Das zunächst auf die Berufung des Angeklagten ergangene Urteil des Landgerichts Baden-Baden vom 20.10.2018 (6 Ns 307 Js 3540/17) wurde mit Beschluss des Senats vom 18.04.2019 (1 Rv 3 Ss 166/19) auf die Revision des Angeklagten unter Zurückweisung der Sache an eine andere Kammer des Landgerichts Baden-Baden aufgehoben. Mit dem nunmehr angefochtenen Urteil vom 27.09.2019 verwarf das Landgericht Baden-Baden die Berufung des Angeklagten mit der Maßgabe, dass er wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu der Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 25 € verurteilt wird. Dagegen wendet sich der Angeklagte erneut mit der auf die Verletzung formellen und sachlichen Rechts gestützten Revision.

II.

Das Rechtsmittel des Angeklagten hat - zumindest vorläufigen - Erfolg. Die in zulässiger Form erhobene Verfahrensrüge, mit der die Revision durch die Fortsetzung der Hauptverhandlung am 27.09.2019 in Abwesenheit des Angeklagten einen Verstoß gegen die §§ 230 Abs. 1, 231 Abs. 2 StPO beanstandet, ist begründet.

1. Eine unterbrochene Hauptverhandlung gegen einen bereits vernommenen Angeklagten kann als Ausnahme von dem in § 230 Abs. 1 StPO enthaltenen Grundsatz, dass die Hauptverhandlung zur Sicherung des Anspruchs des Angeklagten auf rechtliches Gehör und zur Ermöglichung einer vollständigen Aufklärung des Sachverhalts seine Anwesenheit erfordert, nur dann ohne ihn fortgesetzt werden, wenn er eigenmächtig der Fortsetzung der Hauptverhandlung fernbleibt. Eigenmächtig in diesem Sinne handelt der Angeklagte, der ohne Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe wissentlich seiner Anwesenheitspflicht nicht genügt (BGH, Urteil vom 30.11.1990 - 2 StR 44/90 -, BGHSt 37, 249 = NStZ 1991, 246). Die Eigenmächtigkeit muss dem Angeklagten auch noch im Zeitpunkt der Revisionsentscheidung nachgewiesen sein, was vom Revisionsgericht auf der Grundlage des entsprechenden Revisionsvorbringens selbstständig und grundsätzlich ohne Bindung an die Feststellungen des Tatrichters im Freibeweis nachzuprüfen ist (so der Senat bereits für die - Eigenmächtigkeit im selben Sinne voraussetzende - Abwesenheitsverhandlung nach § 232 Abs. 1 StPO, Beschluss vom 07.08.2001 - 1 Ss 142/01 -, StraFo 2001, 415, für § 232 Abs. 1 StPO; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 08.02.1994 - 2 Ss 154/93 -, NStE Nr. 9 zu § 231 StPO mwN; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 231 Rn. 25 mwN; KK-StPO/Gmel, StPO, 8. Aufl. 2019, § 231 Rn. 16 mwN; a.A. Becker in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 231 Rn. 43, der das Revisionsgericht an die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Tatrichters gebunden sieht). Nur wenn eine weitere Klärung nicht möglich ist, legt es seiner Entscheidung die nicht zu erschütternde Überzeugung des Tatrichters zu Grunde (BGH, Urteil ...

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