Leitsatz (amtlich)

1. Ein Fahrradfahrer, der auf einer 3,5 Meter breiten Fahrradtrasse in dritter Reihe ohne Gegenverkehr überholt, genügt den Sorgfaltsanforderungen des § 5 Abs. 4 Satz 6 StVO und § 1 Abs. 2, § 16 Abs. 1 Nr. 2 StVO nicht, wenn er eine Gefährdung der Überholten nur durch einen Zuruf ohne Abwarten einer Reaktion auszuschließen versucht.

2. Im Jahr 2016 war für Radfahrer das Tragen von Schutzhelmen nach allgemeinem Verkehrsbewusstsein zum eigenen Schutz im Sinne des § 254 Abs. 1 BGB nicht erforderlich (in Fortschreibung zu BGH Urt. v. 17.6.2014 - VI ZR 281/13, r+s 2014, 422 Rn. 15 für das Jahr 2011; OLG Nürnberg Urt. v. 20.8.2020 - 13 U 1187/20, NJW 2020, 3603 = juris Rn. 19 ff. für das Jahr 2017; OLG Hamm Beschl. v. 14.2.2023 - 7 U 90/22 für das Jahr 2018).

 

Normenkette

BGB § 254 Abs. 1, § 823 Abs. 1; StVO § 1 Abs. 2, § 5 Abs. 4 S. 6, § 16 Abs. 1 Nr. 2

 

Verfahrensgang

LG Essen (Aktenzeichen 3 O 73/18)

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das am 09.11.2021 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 3. Zivilkammer des Landgerichts Essen wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Dieses und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte darf die Vollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages aus den Urteilen abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

 

Gründe

I. Der Kläger begehrt nach einem Fahrradunfall vom 0.0.2016, bei dem er als Radfahrer durch eine Kollision mit dem seinerseits Rennrad fahrenden Beklagten schwer verletzt worden ist, die Zahlung eines Schmerzensgeldes, die Feststellung, dass der Beklagte für zukünftige immaterielle und materielle Schäden haftet sowie die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren.

Beide Parteien befuhren am Unfalltag mit ihrem Fahrrad bzw. Rennrad die A in B in derselben Fahrtrichtung - ebenso wie eine Gruppe von 10 bis 12 weiteren Radfahrer(inne)n. Als der Beklagte den Kläger im Bereich der Gruppe überholte, kam es zur Kollision. Die Einzelheiten des Unfallhergangs sind zwischen den Parteien streitig.

Der Beklagte, der im Zuge der Kollision ebenfalls verletzt worden ist, hat die hilfsweise Aufrechnung mit eigenen Schmerzensgeldansprüchen erklärt.

Der Kläger hat behauptet, der Beklagte habe ihn - während er seinerseits die Gruppe Radfahrer überholt habe - ohne ausreichenden Seitenabstand mit stark überhöhter Geschwindigkeit überholt.

Der Beklagte hat behauptet, er habe sich der größeren Gruppe von Radfahrern von hinten genähert. Die Gruppe von Radfahrern sei am rechten Rand mehr oder weniger in einer Reihe hintereinander gefahren, zum Teil lediglich etwas versetzt. Um auf sich bzw. sein beabsichtigtes Überholmanöver aufmerksam zu machen, habe er "Vorsicht" gerufen. Er sei dann mit ausreichendem Abstand an den anderen Radfahrern vorbei gefahren, als plötzlich der Kläger mit seinem Rad nach links ausgeschert sei, so dass er nicht mehr habe ausweichen können und es zum Zusammenstoß gekommen sei. Der Kläger, der Ohrstöpsel getragen habe, habe seine Rufe wohl nicht gehört.

Mit dem am 09.11.2021 verkündeten Urteil (Bl. 244 ff. d. erstinstanzlichen Papierakte (PA)), auf dessen Feststellungen wegen der in erster Instanz gestellten Anträge sowie wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes bis zum Abschluss der ersten Instanz Bezug genommen wird, hat das Landgericht Essen der Klage nach Zeugenvernehmung überwiegend stattgegeben. Es hat dem Kläger unter Klageabweisung im Übrigen gestützt auf §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB ein Schmerzensgeld in Höhe von 19.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 07.04.2018 zugesprochen und festgestellt, dass der Beklagte für alle zukünftigen aus dem Unfallereignis vom 0.0.2016 herrührenden Schäden aufzukommen hat. Zudem hat es den Beklagten verurteilt, den Kläger hinsichtlich einer Forderung seiner Prozessbevollmächtigten in Höhe von 1.100,51 EUR freizustellen. Zur Begründung hat das Landgericht im Wesentlichen ausgeführt, der Beklagte habe beim Überholen des Klägers nicht ausreichend Abstand gehalten, so dass es zu dem Unfall gekommen sei, bei dem sich der Kläger unstreitig erheblich verletzt habe. Dass der Kläger plötzlich nach links ausgeschert sei, sei demgegenüber nicht erwiesen. Infolge des Unfalls habe sich der Kläger eine Jochbeinfraktur links, eine Nasenbeinfraktur, eine Riss-/Quetschwunde frontal links, eine Kalottenfraktur und eine subarachnoidale Blutung frontal links, einen Le Fort 1 Fraktur rechts, eine AC-Gelenkssprengung der linken Schulter sowie ein Subcutanhämatom nach Hüftprellung links zugezogen. Infolge dieser Verletzungen sei der Kläger weiterhin gesundheitlich beeinträchtigt. Er sei beim Tragen schwerer Gegenstände eingeschränkt, leide an einer Funktionseinschränkung im Handgelenk und habe Schwierigkeiten bei Überkopfarbeiten/-bewegungen. Außerdem seien sein Geruchs- und Geschmackssinn beeinträchtigt....

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