Leitsatz (amtlich)

1. Den Zurechnungszusammenhang zwischen Betrieb eines Kraftfahrzeugs im Querverkehr und einem berührungslosen Unfall eines bevorrechtigten Radfahrers muss der geschädigte Radfahrer beweisen, wofür - wie hier - die bloße Anwesenheit des Kraftfahrzeugs an der Unfallstelle nicht ausreicht (im Anschluss an BGH Urt. v. 22.11.2016 - VI ZR 533/15, r+s 2017, 95 Ls.; Senat Beschl. v. 10.3.2022 - 7 U 3/22, NJOZ 2022, 1286 Ls. 1).

2. Ein den Verursachungsbeitrag begründender Verstoß des Fahrers des Kraftfahrzeugs gegen die Pflicht zum Hineintasten - also zum zentimeterweisen Vorrollen, um gegebenenfalls sofort anhalten zu können - nach § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO scheidet aus, wenn das Kraftfahrzeug bereits einen halben Meter vor der Schnittlinie der bevorrechtigten, wenn auch im Mündungstrichter der untergeordneten Straße zum Stehen kommt.

3. Eine den Verursachungsbeitrag alternativ begründende kritische Verkehrslage durch die bloße Annäherung von Querverkehr liegt nicht vor, wenn der Geschädigte keine Umstände beweisen kann, die sein Vertrauen auf eine verkehrsgerechtes Verhalten des Querverkehrs entfallen lassen mussten (in Anwendung von BGH Urt. v. 4.4.2023 - VI ZR 11/21, BeckRS 2023, 9120 Rn. 11 ff.).

 

Normenkette

StVG §§ 7, 18

 

Verfahrensgang

LG Münster (Aktenzeichen 8 O 190/21)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten zu 1 wird das am 13.01.2023 verkündete Urteil des Einzelrichters der 8. Zivilkammer des Landgerichts Münster (8 O 190/21) teilweise abgeändert.

Die Klage wird insgesamt abgewiesen.

Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz werden der Klägerin auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

(abgekürzt gemäß § 540 Abs. 2, § 313a Abs. 1 Satz 1, § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO)

I. Die Klägerin macht Ansprüche nach einem Sturz von ihrem Fahrrad gegen den Beklagten zu 2 als Fahrer eines von einem Dritten gehaltenen Fahrzeugs und gegen die Beklagte zu 1 als dessen Kfz-Haftpflichtversicherer geltend.

Die Klägerin fuhr erlaubterweise mit ihrem Rennrad auf einem linksseitigen vorfahrtsberechtigten Fahrradweg, während sich der Beklagten zu 2 aus einer untergeordneten, für die Klägerin erst aus der Nähe einsehbaren Querstraße von links näherte. Die Klägerin stürzte, ohne dass es zu einer Berührung kam, weil sie in Befürchtung eines Zusammenstoßes eine Vollbremsung machte, und verletzte sich u. a. erheblich mit Dauerschaden an beiden Armen.

Die Klägerin meint, der Unfall sei beim Betrieb des sich nähernden Fahrzeugs erfolgt, weil sie - ohne dieses zunächst gesehen zu haben - durch dessen Fahrverhalten zu der Vollbremsung herausgefordert worden sei. Die Beklagten verneinen dies und sehen erst recht kein Verschulden auf Seiten des Beklagten zu 2.

Das Landgericht hat der auf Feststellung der materiellen und immateriellen Ersatzpflicht gerichteten Klage hinsichtlich der Beklagten zu 1 wegen der vom Fahrzeug ausgehenden Betriebsgefahr (§ 7 Abs. 1 StVG) unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens der Klägerin in Höhe von 80 % zu 20 % stattgegeben und die Klage hinsichtlich des Beklagten zu 2 abgewiesen, weil im Sinne von § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG feststehe, dass dieser den Sturz der Klägerin nicht verschuldet habe.

Bezüglich des weiteren erstinstanzlichen Vortrages, der Anträge und der Entscheidungsgründe wird auf das der Klage teilweise stattgebende Urteil des Landgerichts verwiesen.

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts sowie Rechtsfehler bei der Tatsachenfeststellung rügt und ihr erstinstanzliches Klagebegehren - unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens - weiterverfolgt. Der Beklagte zu 2 habe gegen § 8 Abs. 2 Satz 1 StVO und gegen § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO verstoßen. Das Hineintasten habe dabei schon in der Anfahrt auf die Kreuzung, spätestens ab dem Mündungstrichter beginnen müssen.

Gegen ihre Verurteilung wendet sich zudem die Beklagte zu 1, die eine Verletzung materiellen Rechts sowie Rechtsfehler bei der Tatsachenfeststellung rügt und ihr erstinstanzliches Klageabweisungsbegehren - unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens - weiterverfolgt. Es fehle am Zurechnungszusammenhang zwischen Betrieb des Fahrzeugs und dem Sturz.

Die Klägerin beantragt,

unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr alle materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, soweit sie aus dem Unfallereignis am 13.07.2020 an der U.-straße Höhe Einmündung W.-straße in G. entstanden sind und künftig entstehen werden.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Beklagte zu 1 beantragt zudem,

die Klage unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils vollständig abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zu 1 zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf ihre Schriftsätze verwiesen.

Der...

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