Leitsatz (amtlich)

Die Frist für den Eingang eines Widerrufsschriftsatzes bei Gericht wird auch dann gewahrt, wenn der Schriftsatz vor Fristablauf in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelangt, auch wenn im Prozessvergleich "Anzeige zur Gerichtsakte" vereinbart worden ist.

 

Verfahrensgang

LG Hagen (Urteil vom 21.01.2004; Aktenzeichen 8 O 232/99)

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das am 21.4.2004 verkündete Urteil der 8. Zivilkammer des LG Hagen abgeändert.

Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit vor dem LG durch den Vergleich vom 19.11.2003 nicht erledigt ist.

Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der Klägerin auferlegt, allerdings werden die Gerichtskosten des Berufungsverfahrens niedergeschlagen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Die Parteien schlossen in der mündlichen Verhandlung vor dem LG am 19.11.2003 einen Widerrufsvergleich, der unter Ziff. III lautet: "Beide Parteien behalten sich den Widerruf des Vergleichs durch schriftliche Anzeige zur Gerichtsakte bis zum 17.12.2003 vor". Der Widerrufsschriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Beklagten ging am 17.12.2003 im gemeinsamen Nachtbriefkasten der Justizbehörden Hagen (AG und LG) und am 18.12.2003 bei dem LG Hagen ein. Das LG hat festgestellt, dass der Rechtsstreit durch den Vergleich vom 19.11.2003 erledigt sei. Es hat die Auffassung vertreten, der Widerrufsschriftsatz sei innerhalb der Widerrufsfrist nicht zur Gerichtsakte gelangt. Auf die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil wird Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Dagegen wendet sich der Beklagte mit der Berufung. Er hält den Widerruf für rechtzeitig.

Der Beklagte beantragt, das Urteil das LG Hagen vom 21.4.2004 abzuändern und feststellen, dass der Rechtsstreit vor dem LG Hagen - 8 O 232/99 - durch den Vergleich vom 19.11.2003 nicht beendet (nicht erledigt) ist.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie vertritt im Wesentlichen die Auffassung, dass der Beklagte den Vergleich nicht rechtzeitig widerrufen habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des zweitinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und das Sitzungsprotokoll zum Senatstermin vom 6.12.2004 Bezug genommen.

II.1. Die Berufung ist zulässig (§ 511 Abs. 1 ZPO). Ein Feststellungsurteil, welches die Erledigung des Rechtsstreits durch den Vergleich ausspricht, ist ein die Instanz abschließendes Endurteil (BGH v. 18.9.1996 - VIII ZB 28/96, MDR 1996, 1286 = NJW 1996, 3345; Zöller/Stöber, ZPO, 24. Aufl., § 794 Rz. 15a).

2. Die Berufung ist begründet. Der Beklagte hat den Widerrufsvergleich rechtzeitig widerrufen. Eine Frist für den Eingang eines Widerrufsschriftsatzes bei Gericht wird auch dann gewahrt, wenn der Schriftsatz vor Fristablauf in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelangt, auch wenn im Vergleich "Anzeige zu den Gerichtsakten" oder "Einreichung zur Geschäftsstelle" vereinbart ist (BVerfG, Beschl. v. 3.10.1979 - 1 BvR 726/78, BVerfGE 52, 203 ff. = MDR 1980, 117 = NJW 1980, 580; Münzberg in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., 2002, § 794 Rz. 87). Gerade die Formulierung "Widerruf - zur Gerichtsakte" ist auslegungsbedürftig, weil sie zeitlich und räumlich schwer zu fixieren ist (Bergerfurth, NJW 1969, 1798). Es liegt außerhalb des Einflussbereichs der Parteien, ob und wann ein bei einer zentralen Postannahmestelle eingegangener Schriftsatz zur Geschäftsstelle und dort - innerhalb der zeitlich beschränkten Dienstzeit - zu den Akten gelangt. Das hat allein justizinterne Gründe (BVerfG, Beschl. v. 3.10.1979 - 1 BvR 726/78, BVerfGE 52, 203 [212] = MDR 1980, 117 = NJW 1980, 580). Es liegt im Interesse beider Parteien, den Widerruf nicht Erfordernissen zu unterstellen, auf die die Parteien keinen Einfluss haben (BGH NJW 1980, 1752 [1753], mit Anm. Grundmann, JR 1980, 331).

Insbesondere kommt es für die Frage der Rechtzeitigkeit auf die Mitwirkung von Justizbediensteten nicht an (BVerfG, Beschl. v. 3.10.1979 - 1 BvR 726/78, BVerfGE 52, 203 [212] = MDR 1980, 117 = NJW 1980, 580; NJW 1986, 244; BGH v. 21.6.1989 - VIII ZR 252/88, MDR 1990, 43 = NJW-RR 1989, 1214 [1215]). Der Auffassung des LG, der Beklagte hätte am 17.12.2003 durch einen Anruf bei der Geschäftsstelle dafür Sorge tragen können, dass der Schriftsatz zu den Gerichtsakten gelangt, ist vor diesem Hintergrund nicht beizutreten. Die Widerrufsfrist endet am Tag des Fristablaufs um 24.00 Uhr (BVerfG, Beschl. v. 3.10.1979 - 1 BvR 726/78, BVerfGE 52, 203 [211] = MDR 1980, 117 = NJW 1980, 580). Entgegen der Auffassung der Klägerin kann es deshalb auch nicht darauf ankommen, ob der Widerrufsschriftsatz persönlich auf der Geschäftsstelle abgegeben werden konnte oder musste. Mit der Abgabe auf der Geschäftsstelle (oder Ablage in ein Fach der Geschäftsstelle auf der Wachtmeisterei) ist ein Schriftsatz - wörtlich genommen - im Übrigen immer noch nicht zu den Gerichtsakten gelangt. Akten, auch Retentakten, können falsch zugetragen, verfächert oder sonst außer Kontrolle ...

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