Leitsatz (amtlich)

Im Rahmen der Billigkeitsentscheidung nach § 91a ZPO kann auch bei reziproker Anwendung des Rechtsgedankens des § 93 ZPO nicht auf die zu § 93 ZPO entwickelte Beweislastregelung abgestellt werden, wenn dies dazu führt, dass die Antragsgegnerin eine negative Tatsache - nämlich den Nichtzugang eines Schreibens - beweisen müsste.

 

Normenkette

FamFG § 113; ZPO §§ 91a, 93

 

Verfahrensgang

AG Borken (Aktenzeichen 35 F 51/10)

 

Tenor

Der angefochtene Beschluss wird teilweise abgeändert.

Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf bis zu 800 EUR festgesetzt.

 

Gründe

Die sofortige Beschwerde ist gem. §§ 113 Abs. 1 S. 2 FamFG, 91a Abs. 2 ZPO zulässig und in der Sache auch begründet.

Das AG hat im Ergebnis zu Unrecht der Antragsgegnerin die gesamten Kosten des Verfahrens auferlegt.

Es gibt keinen allgemeinen Grundsatz, wonach Kosten stets der Partei aufzuerlegen sind, die sich freiwillig in die Rolle des Unterlegenen begibt (vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl., § 91a Rz. 25 m.w.N.).

Im Rahmen der nach § 91a Abs. 1 ZPO zu treffenden Billigkeitsentscheidung ist, dies hat auch das AG zutreffend gesehen, eine reziproke Anwendung des Grundgedankens von § 93 ZPO zu berücksichtigen, also zu prüfen, ob der Antragsgegner dem Antragsteller Veranlassung zur Klage gegeben hat (vgl. Zöller/Vollkommer, a.a.O., m.w.N.).

Veranlassung zur Klageerhebung hat ein Antragsgegner gegeben, wenn sein Verhalten vor Verfahrensbeginn ohne Rücksicht auf Verschulden und materielle Rechtslage gegenüber dem Antragsteller so war, dass dieser annehmen musste, er werde ohne gerichtliches Verfahren nicht zu seinem Recht kommen (vgl. Zöller/Herget, ZPO, 28. Aufl., § 93 Rz. 3).

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Antragsgegnerin außergerichtlich zum Verzicht auf die Rechte aus dem bestehenden Unterhaltstitel aufgefordert worden ist. Der Vortrag der - erstinstanzlich nicht, zweitinstanzlich doch - anwaltlich vertretenen Antragsgegnerin, ihr sei bis zur Zustellung des Abänderungsantrags am 21.10.2010 nicht bekannt gewesen, dass der Antragsteller keinen nachehelichen Unterhalt mehr für sie zahlen wolle, ist auch im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen.

Denn gem. § 571 Abs. 2 S. 1 ZPO kann die Beschwerde grundsätzlich auf neue Angriffs- und Verteidigungsmittel gestützt werden.

Teilweise wird im Rahmen von Beschwerden gegen Entscheidungen nach § 91a ZPO eine nur eingeschränkte Zulässigkeit von neuem Vorbringen angenommen (vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl., § 91a Rz. 27 m.w.N.).

Der Senat geht jedoch mit OLG Düsseldorf (JR 1995, S. 205) davon aus, dass neue Tatsachen im Beschwerderechtszug verwertet werden dürfen, wenn dies ohne zeitraubende Beweisaufnahme möglich ist und dem Gegner rechtliches Gehör gewährt worden ist. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Es steht nicht fest, dass die Antragsgegnerin vor der Zustellung des gerichtlichen Abänderungsantrags Kenntnis von einer Aufforderung des Antragstellers auf Verzicht auf die Rechte aus dem Unterhaltstitel hatte.

Die Mitteilung des Antragstellers in dem von ihm im Beschwerdeverfahren geschilderten Telefonat zwischen den Beteiligten am 16.8.2010, er sei der Auffassung, keinen Unterhalt mehr zu schulden, ist nach Auffassung des Senats nicht als verbindliche Aufforderung zum Verzicht anzusehen.

Das von dem Antragsteller vorgelegte außergerichtliche Schreiben vom 1.9.2010 enthält zwar eine Aufforderung an die Antragstellerin, binnen zehn Tagen zu bestätigen, dass aus dem Vergleich vom 17.12.2008 keine Rechte mehr hergeleitet werden. Es ist jedoch zwischen den Beteiligten streitig, ob der Antragsgegnerin dieses Schreiben vom 1.9.2010 zugegangen ist.

Im Rahmen der Billigkeitsentscheidung nach § 91a ZPO kann nach Auffassung des Senats im vorliegenden Fall auch bei reziproker Anwendung des Rechtsgedankens des § 93 ZPO nicht auf die Beweislastregelung, die zu § 93 ZPO entwickelt worden ist, abgestellt werden. Insofern ist zum einen zu berücksichtigen, dass die Antragsgegnerin eine negative Tatsache - nämlich den Nichtzugang - beweisen müsste, was schlechterdings unmöglich ist. Der Antragsteller hätte, wenn er sorgfältig gehandelt hätte, das außergerichtliche Schreiben vom 1.9.2010 der Antragsgegnerin per Einschreiben gegen Rückschein übersenden können. Dies war dem Antragsteller, der seinerseits Rechte aus dem Schreiben vom 1.9.2010 herleiten möchte, auch zumutbar und wird vielfach in der außergerichtlichen Praxis, die dem Senat aus einer Vielzahl von Abänderungsverfahren bekannt ist, auch so gehandhabt.

Bei der Ermessensentscheidung nach § 91a ZPO ist nach Auffassung des Senats auch zu berücksichtigen, dass nach allgemeinen Grundsätzen derjenige die Beweislast trägt, der sich auf den Zugang beruft (vgl. Palandt/Ellenberger, BGB, 70. Aufl., § 130 Rz. 21). Entgegen der Auffassung des Antragstellers besteht für Postsendungen kein Anscheinsbeweis, dass eine z...

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