Leitsatz (amtlich)

Ein Haftfortdauerbeschluss nach § 268b StPO bedarf jedenfalls dann, wenn die Verurteilung deutlich von den Vorwürfen des ursprünglichen Haftbefehls abweicht, einer Begründung, aus der hervorgehen muss, welcher Taten der Angeklagte dringend verdächtig ist und worauf die richterliche Überzeugungsbildung beruht.

Das Vorliegen der schriftlichen Urteilsgründe ersetzt das Erfordernis der Neufassung des Haftbefehls grundsätzlich nicht.

 

Verfahrensgang

LG Essen (Entscheidung vom 23.03.2012)

 

Tenor

Auf die Haftbeschwerde des Angeklagten werden der Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts Essen vom 23. März 2012 sowie der Haftbefehl des Amtsgerichts Gladbeck vom 29. September 2011 -6 Gs 174/11 - aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Angeklagten hat die Landeskasse zu tragen.

 

Gründe

Das Amtsgericht Gladbeck erließ am 29. September 2011 - 6 Gs 174/11 - gegen den Angeklagten Haftbefehl wegen einer tateinheitlich begangenen Tat des Missbrauchs von Berufsbezeichnungen, des Betruges und der Urkundenfälschung. .In dem Haftbefehl wurde dem - bereits wegen gleichgelagerter Straftaten vorbestraften - Angeklagten zur Last gelegt, sich Anfang April 2011 unter Vorlage einer gefälschten Approbationsurkunde bei der Firma XX. eine Anstellung als Betriebsarzt erschlichen zu haben. Der Angeklagte befand sich vom 29. September bis 29. November 2011 in Untersuchungshaft. Seit dem 30. November 2011 verbüßt er nach erfolgter Unterbrechung der Untersuchungshaft Strafhaft für die Staatsanwaltschaften Siegen und Frankfurt/Main. Voraussichtliches Strafende ist der 28. Mai 2014. Für den Haftbefehl in dieser Sache ist Überhaft notiert.

Das Landgericht Essen - 52 KLs 51/11 - verurteilte den Angeklagten am 23. März 2012 wegen Betruges in Tateinheit mit Missbrauch von Berufsbezeichnungen sowie wegen Fälschung von Gesundheitszeugnissen in Tateinheit mit Missbrauch von Berufsbezeichnungen und wegen gefährlicher Körperverletzung in 91 Fällen, jeweils tateinheitlich mit unbefugter Ausübung der Heilkunde und Missbrauch von Berufsbezeichnungen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Über die Vorwürfe des Haftbefehls des Amtsgerichts Gladbeck vom 29. September 2011 hinausgehend hatte der Angeklagte nach den Feststellungen des Urteils auch in 4 Fällen als vermeintlicher Arzt Gesundheitszeugnisse ausgestellt sowie in 91 Fällen als vermeintlicher Betriebsarzt im Auftrag xxxxx. Blutentnahmen und Impfungen bei xxxxxx durchgeführt.

Das Landgericht verhängte für die Tat des Betruges in Tateinheit mit Missbrauch von Berufsbezeichnungen eine Einzelstrafe von einem Jahr, für die Tat der Fälschung von Gesundheitszeugnissen in Tateinheit mit Missbrauch von Berufsbezeichnungen eine Einzelstrafe von sechs Monaten und für die 91 Fälle der gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit unbefugter Ausübung der Heilkunde und Missbrauch von Berufsbezeichnungen jeweils Einzelstrafen von sechs Monaten.

Mit dem angefochtenen Beschluss erhielt das Landgericht Essen im Anschluss an die Urteilsverkündung den Haftbefehl vom 29. September 2011 "aus den Gründen seiner Anordnung und des heute verkündeten Urteils" aufrecht.

Gegen das Urteil des Landgerichts Essen hat der Angeklagte Revision eingelegt. Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs liegt bisher noch nicht vor.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 30. Oktober 2012 hat der Angeklagte Antrag auf mündliche Haftprüfung gestellt. Das Landgericht Essen hat den Antrag als Haftbeschwerde aufgefasst und dieser mit Beschluss vom 16. November 2012 nicht abgeholfen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt,

die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftfortdauerbeschluss der Strafkammer als unbegründet zu verwerfen.

II.

Das zulässige Rechtsmittel des Angeklagten hat Erfolg.

Das Landgericht hat den mit Schriftsatz seiess Verteidigers vom 30. Oktober 2012 gestellten Antrag auf mündliche Haftprüfung zu Recht gemäß § 300 StPO als Beschwerde (§ 304 Abs. 1 StPO) gegen die Entscheidung über die Haftfortdauer vom 23. März 2012 ausgelegt. Ein Haftprüfungsantrag wäre nur zulässig ist, wenn gegen den Angeklagten Untersuchungshaft vollzogen würde(Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 117, Rn. 4 m.N.). Dies ist seit dem 30. November 2011 aber nicht mehr der Fall.

Die gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthafte und zulässige Haftbeschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung der angefochtenen Haftentscheidung.

Der angefochtene Beschluss der Strafkammer zur Fortdauer der Untersuchungshaft vom 23. März 2012 genügt - auch unter Berücksichtigung der Nichtabhilfeentscheidung vom 16. November 2012 sowie der schriftlichen Urteilsgründe - nicht den Anforderungen, die an eine Haftentscheidung zu stellen sind.

Gemäß § 114 Abs. 2 Nr. 2 und 4 StPO sind im Haftbefehl die Taten, derer der Angeklagte dringend verdächtig ist, sowie die den dringenden Tatverdacht begründenden Tatsachen anzuführen. Auch der Haftfortdauerbeschluss bedarf grundsätzlich einer Begründung nach § 34 StPO (Meyer-...

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