Leitsatz (amtlich)

1. Zwar ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeit gegebenenfalls auch auf die Möglichkeit einer Reststrafaussetzung zur Bewährung abzustellen.

2. Die Verhältnismäßigkeit des weiteren Vollzugs der Untersuchungshaft ist aber im Hinblick auf diese Erwägung nur dann maßgeblich in Frage gestellt, wenn zumindest von der Wahrscheinlichkeit einer vorzeitigen bedingten Entlassung auszugehen ist.

 

Verfahrensgang

LG Essen (Beschluss vom 12.10.1992; Aktenzeichen 31a 38/92 Ns)

 

Tenor

Beschluß

Die Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten verworfen.

 

Gründe

Der am 14. Oktober 1991 vorläufig festgenommene Angeklagte befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Dorsten vom 15. Oktober 1991 - 15 Gs 492/91 - in Untersuchungshaft. Deren Vollzug war in der Zeit vom 16. November 1991 bis zum 6. Januar 1992 zur Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe unterbrochen.

Durch Urteil des Amtsgerichts Dorsten vom 1. Juni 1992 ist der Angeklagte wegen fortgesetzten Besitzes und Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie tateinheitlicher Abgabe von Betäubungsmitteln an Personen unter 18 Jahren zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt worden. Seine Berufung, die der Angeklagte in der Berufungshauptverhandlung auf die Überprüfung der Bewährungsentscheidung beschränkt hatte, ist durch Urteil des Landgerichts Essen vom 12. Oktober 1992, gegen das der Angeklagte Revision eingelegt hat, verworfen worden. Gleichzeitig hat das Landgericht den gegen den Angeklagten ergangenen Haftbefehl aus den Gründen seiner Anordnung aufrechterhalten.

Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Angeklagten hat keinen Erfolg.

Nach dem - insoweit rechtskräftigen - Urteil des Amtsgerichts Dorsten vom 1. Juni 1992 steht fest, daß der Angeklagte die ihm zur Last gelegte Tat begangen hat.

Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Ziffer 2 StPO. Nachdem auch das Landgericht eine Strafaussetzung zur Bewährung abgelehnt hat, hat der Angeklagte angesichts der gegen ihn verhängten Strafe mit weiterem längeren Freiheitsentzug zu rechnen. Im Hinblick auf seine Drogenabhängigkeit und die im Rahmen des Tatgeschehens aufgebauten Beziehungen zu ausländischen Heroinhändlern ist deshalb zu befürchten, daß er sich dem weiteren Verfahren und der ihm drohenden Strafvollstreckung im Falle einer Freilassung zu entziehen versuchen würde. Dem steht nicht entgegen, daß der Angeklagte bis zu seiner Inhaftierung gearbeitet hat und nach eigenem Vorbringen bei seiner Familie wohnen könnte. Ebenso sind Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO nicht geeignet, die nach allem bestehende Fluchtgefahr auszuräumen oder auch nur maßgeblich zu mindern.

Mit der Annahme der Fluchtgefahr kann die Haftanordnung allerdings nicht auch auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützt werden (§ 112 a Abs. 2 StPO), der im übrigen den Vollzug der Untersuchungshaft gemäß § 122 a StPO ohnehin nur bis zu einem Jahr zulassen würde.

Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Nach dem Urteil des Landgerichts Essen vom 12. Oktober 1992 ist davon auszugehen, daß die gegen den Angeklagten verhängte Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten nicht zur Bewährung ausgesetzt werden wird. Auf diese Freiheitsentziehung ist der bisherige Untersuchungshaftvollzug anzurechnen, so daß derzeit erst etwas mehr als die Hälfte der Strafe als verbüßt gilt.

Zwar ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeit gegebenenfalls auch auf die Möglichkeit einer Reststrafaussetzung zur Bewährung abzustellen, die hier grundsätzlich gemäß § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB schon nach Verbüßung der Hälfte der Strafe bestehen könnte, da es sich bei dem Angeklagten um einen Erstverbüßer handeln würde. Die Verhältnismäßigkeit des weiteren Vollzugs der Untersuchungshaft wäre aber im Hinblick auf diese Erwägung nur dann maßgeblich in Frage gestellt, wenn zumindest von der Wahrscheinlichkeit einer vorzeitigen bedingten Entlassung auszugehen wäre. Dies jedoch ist vorliegend nicht der Fall. Unter den jetzt gegebenen Umständen erscheint die sowohl für die nach § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB wie auch nach § 57 Abs. 1 StGB zu treffende Entscheidung wesentliche Prognose für eine künftig straffreie Lebensführung vielmehr als ungünstig. Der Angeklagte, der bis zu seiner Inhaftierung in dem Drogenmilieu verstrickt war, ist heroinabhängig. An der psychischen Abhängigkeit hat sich auch durch den bisherigen Vollzug der Untersuchungshaft nichts geändert. Gleichwohl ist der Angeklagte, wie sich aus dem Nichtabhilfebeschluß der Strafkammer vom 20. Oktober 1992 ergibt und - mittelbar - auch seiner Beschwerdebegründung zu entnehmen ist, derzeit zu einer stationären Drogentherapie als wesentlicher Voraussetzung für eine zukünftig straffreie Lebensführung nicht bereit.

Damit ist die Frage der Verhältnismäßigkeit des Vollzugs der weiteren Untersuchungshaft an der Dauer der verhängten Freiheitsstrafe zu messen und...

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