Leitsatz (amtlich)

1. (Beschwerde)Entscheidungen in Parallelverfahren dürfen auch dann nicht abgewartet werden, wenn eine Verbindung mit diesen Verfahren in Betracht kommt.

2. Zu den Voraussetzungen, unter denen eine Verfahrensverzögerung den Justizorganen anzulasten ist.

3. Eine fehlende Personalausstattung fällt ebenso wie die Überlastung der Gerichte in den Verantwortungsbereich der Strafverfolgungsbehörden.

 

Tenor

Der Haftbefehl des Amtsgerichts X. gegen den Angeklagten Y. vom 21. Dezember 2010 (9 Gs 7347/10) in der Fassung der Haftbefehle des Amtsgerichts X. vom 28. April 2011 (9 Gs 2468/11) und des Landgerichts X. vom 28. Dezember 2011 (2 KLs 24/11) wird aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die dem Angeklagten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

 

Gründe

Der Beschwerdeführer Y. steht spätestens seit dem Ende des Jahres 2010 in dem Verdacht, an einem Raubüberfall auf die Filiale der Sparkasse Weserbergland in Hessisch Oldendorf am 2. Dezember 2009 beteiligt gewesen zu sein, bei dem die Täter Bargeld im Gesamtwert von 697.000 EUR erbeutet hatten. Das Amtsgericht X. ordnete mit Haftbefehl vom 21. Dezember 2010 (9 Gs 7347/10) die Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer an, der sich zum damaligen Zeitpunkt an einem unbekannten Ort - vermutlich in Polen - aufhielt. Auf der Grundlage dieses Haftbefehles stellte die Staatsanwaltschaft X. am 29. Dezember 2010 einen Europäischen Haftbefehl aus. Am 18. Januar 2011 wurde der Beschwerdeführer in Polen festgenommen und dort zum Zwecke der Auslieferung nach Deutschland inhaftiert.

Unter dem 7. März 2011 erhob die Staatsanwaltschaft X. vor dem Landgericht X. Anklage gegen die Mitbeschuldigten. Am 30. März 2011 lieferten die polnischen Behörden den Beschwerdeführer nach Deutschland aus. Seither verbüßt er hier eine Restfreiheitsstrafe von 569 Tagen aufgrund einer Verurteilung aus dem Jahre 2007. Das Strafende ist auf den 18. Oktober 2012 notiert. Für das vorliegende Verfahren ist Überhaft vermerkt.

Am 28. April 2011 fasste das Amtsgericht X. den Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer neu.

Mit Beschluss vom 6. Mai 2011 lehnte die 2. große Strafkammer des Landgerichts die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn ab. Zur Begründung führte die Strafkammer aus, der Eröffnung des Hauptverfahrens gegen den im Dezember 2010 von Polen nach Deutschland ausgelieferten Y. stehe der auslieferungsrechtliche Grundsatz der Spezialität entgegen. Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft verwarf der Senat mit Beschluss vom 6. Juni 2011 (III-3 Ws 188/11) als unbegründet.

Die Staatsanwaltschaft nahm daraufhin am 7. Juli 2011 die Anklage vom

6. März 2011 insgesamt zurück und verfasste unter dem 26. Juli 2011 eine neue Anklage, die sich nunmehr gegen und den Beschwerdeführer richtete. Diese neue Anklage ging am 2. August 2011 beim Landgericht X. ein. Mit Verfügung vom 12. August 2011 ordnete der stellvertretende Vorsitzende der 2. großen Strafkammer des Landgerichts X. die Übersetzung der Anklageschrift in die polnische bzw. türkische Sprache und deren Zustellung an die vier Angeschuldigten sowie deren Verteidiger an.

In der Folgezeit erhielten mehrere Verteidiger Akteneinsicht, und es wurde die Übersetzung eines zur Ermittlungsakte gelangten Strafurteils eines polnischen Gerichts gegen den Hauptbelastungszeugen in die deutsche Sprache veranlasst.

Sonstige verfahrensfördernde Maßnahmen wurden - soweit ersichtlich - nicht ergriffen.

Mit Beschluss vom 28. Dezember 2011 eröffnete die 2. große Strafkammer des Landgerichts das Hauptverfahren gegen die vier Angeschuldigten und fasste zugleich die Haftbefehle gegen den Beschwerdeführer und seine drei Mitangeklagten neu. Mit Verfügung vom gleichen Tage ordnete der Vorsitzende der Strafkammer die Zustellung dieses Beschlusses an, teilte den Verfahrensbeteiligten mit, die Geschäftslage der Kammer habe bislang eine Terminsbestimmung nicht zugelassen, stellte eine Durchführung der Hauptverhandlung im Zeitraum zwischen dem 25. April 2012 und dem 6. Juli 2012 in Aussicht und bat die Verfahrensbeteiligten insoweit um Abstimmung möglicher Verhandlungstermine.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers Rechtsanwalt Z. vom 16. Januar 2012 legte der Angeklagte Y. Beschwerde gegen den neugefassten Haftbefehl vom 28. Dezember 2011 ein.

Mit Verfügung vom 24. Januar 2012 teilte der Vorsitzende der Strafkammer den Verfahrensbeteiligten mit, die Hauptverhandlung solle an dreizehn Tagen zwischen dem 11. Mai 2012 und dem 22. Juni 2012 stattfinden.

Mit Beschluss vom 31. Januar 2012 half das Landgericht der Haftbeschwerde des Angeklagten Y. nicht ab.

II. Die Haftbeschwerde des Angeklagten ist zulässig und begründet.

1. Es kann dahinstehen, ob gegen den Beschwerdeführer ein dringender Tatverdacht besteht und ob ein Haftgrund vorliegt (vgl. § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO). Die Anordnung der Untersuchungshaft kann allein schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht aufrechterhalten bleiben. Sowohl die Staatsanwal...

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